gestern nacht träumte ich von sojasoße, gestern nacht begann ich zu wachsen.
gestern nacht ging die wüste weit fort, wie ein seufzen. ich habe die wolken
gehört, unterm dachstuhl, während der letzte von den jungen, die weggehen
mussten, als man ihre häuser abriss, seine zigarette aufrauchte. weil gestern
nacht keine frau weinen wollte, wurde shanghai eine stadt aus holzpferden.
weil kein nebel über die brücken kommen wollte, wurde guangzhou ein
tablettenhimmel. und in xining gingen die lichter aus, während jemand sein
messer versteckte und über eine straße rannte, die mit schaföl bespritzt war.
gestern nacht verließ der gott von beijing die stadt.
gegen alle organisierten lügen!
gegen treffen bei dämmerung unter frühen sternen. gegen das schreien
meines namens von einer baumspitze, gegen schreien im niesleregen. gegen
kapitalistische kontemplation. gegen zweigesichter und dreimesser. gegen die
reinkarnation toter seelen in anderen leichen. gegen die senkung meines iqs
durch dich. gegen die unterbrechung eines films nach der hälfte, wenn das licht
unsere deckmäntel reißt, hält die albtraumfee in der luft an. sie hat keine liebe,
sie hat keine zukunft, ihre einsamkeit ist unsere einsamkeit … gegen macht.
zum flohmarkt unsterbliche und unvergängliche!
[…]
sex hilft gegen alles!
gegen werbung, gegen vergesslichkeit. gegen das zerreißen irgendeines
ausweises, irgendeines gesichts, gegen das überstehen eines kometenschauers
in goldenen mänteln, wenn man den namen der eigenen tochter vergisst. gegen
tanzende fleischfresser. gegen sterbende computer. gegen das leben wie eine
sichel. gegen das sterben eines geruchs in der nacht. gegen modezeitschriften
und internetagenturen. gegen tagträumen, gegen durchsichtige kleidung,
das ausbrechen eines herzens in gänsefedern … schnaps, der aus zehn
schritt entfernung tötet … die herrschaft der dummen … pornohefte als
prüfungsunterlagen … gegen angst.
dreh das gewitter auf!
[…]
willkommen im untergrund!
es gibt hier keine punk-theorie, nur punk-praxis.
begrabt mich, falls ich tot bin!
glaubt an die ewigkeit der liebe und anderer dinge des täglichen gebrauchs.
die welt gehört euch.
gegen unterhaltungsjournalisten und ihr verzerrtes grinsen.
singt ein lied auf rostigen nägeln.
geht ein bisschen glücklicher.
[…]
wer fliegen kann, ist ein zauberer.
außer moskitos, natürlich.
dagegen. gegen alles.
gegen uns selbst. gegen alles gegen das wir sind.
gegen alles gegen das wir nicht sind.
gegen alles das wir sind.
gegen alles gegen das wir nicht sein dürfen und nicht sein können.
dagegen.
(5. Dezember 2000)
Übersetzung: Lea Schneider & Peiyao Chang
aus: Chinabox – Neue Lyrik aus der Volksrepublik (hrsg. v. Lea Schneider)
Chinabox – Neue Lyrik aus der Volksrepublik
Lesung & Gespräch mit Lea Schneider
Dienstag, 16. Januar, 18 Uhr (Zentralbibliothek Bremen)
Wo kommt ein Gedicht her, wenn es aus China kommt? Kaum ein Land stellen wir uns fremder vor als das Reich der Mitte. CHINABOX enthält Gedichte von zwölf chinesischen Dichtern und Dichterinnen, die diese sicher geglaubte Fremdheit infrage stellen: Sie schreiben über die Friedhöfe von Paris genauso virtuos wie über den Bürgerkrieg in der Ukraine oder über Wittgenstein und Rimbaud. Ein Buch für diejenigen, die mit ihren China-Klischees aufräumen wollen; ein Buch für Entdecker, in dem selbst die Hunde Esperanto sprechen.
Im Rahmenprogramm der Literarischen Woche stellt die Herausgeberin und Übersetzerin Lea Schneider das Buch vor.
Moderation: Jens Laloire.
WOW! Eindringlicher Text, Schönheit der Sprache, spannendes Spannungsfeld China. Wie schön, dass die Veranstaltung bereits in meinem Kalender steht. Jetzt ist die Vorfreude umso größer!
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Die Lesung war beeindruckend und schön und bereichernd. Bin gespannt auf das Buch. Ganz bald wird es in meiner Stadtteilbibliothek ankommen, da hab ich’s nämlich hinbestellt 😊
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Danke für die Rückmeldung, mir hat die Veranstaltung – und die Lektüre der Gedichte – auch sehr viel Freude bereitet. Es lebe die Stadtbibliothek, die solche Veranstaltungen ermöglicht und zudem das entsprechende Buch verleiht. Und ein großer Dank geht geht natürlich an Lea Schneider, die die knapp 100 Gedichte der 12 Dichter*innen zusammengestellt und übersetzt hat (und an die Dichter*innen sowieso). Und Vorsicht: Wenn die Literatur sich an das „bäm-bäm aller herzen“ ranmacht, kann man sich offenbar auch Prellungen holen (sie Ya Shis „Kryptisches Gedicht“, S. 71)
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Das Buch ist ein Schatzkistchen. Wie ein solches aufwendig und liebevoll gestaltet. Ich hab schon mal reingelesen, auch das komplette Gedicht von Yan Jun und das Kryptische Gedicht von Ya Shi.
Und was soll ich sagen? Auf geheimnisvollen Wegen (naja, nicht ganz so geheimnisvoll), findet sich die Chinabox – ooooh, wie schön – heute auf meinem Geburtstagsgabentisch 🙂 ich glaube Elfi hat sich darum gekümmert…
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