Vor ein paar Tagen traf ich in der Innenstadt zufällig einen ehemaligen Studienkollegen, den ich seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte. Früher hatten wir beide oft stundenlang in Kneipen die Köpfe zusammengesteckt, über Projekten gebrütet oder einander von unseren meist armseligen Frauengeschichten berichtet; doch nach dem Studium hatten wir uns peu à peu aus den Augen verloren.
Nun stand er wieder vor mir, trübte meine Wiedersehensfreude jedoch dadurch, dass er mich in ein sonderbar anmutendes Small Talk-Geplänkel verwickelte. Nach einer minutenlangen Oberflächenerkundung kam er schließlich zur Sache und verkündete stolz, dass er vor wenigen Tagen geheiratet habe.
„Wir passen wirklich gut zueinander“, sagte er. „Wir benutzen beide beim Frühstück einen Extralöffel für die Marmelade.“
Ich stutzte. In all den Jahren der Partnersuche hatte ich mich auf Kriterien wie Charakter, Intelligenz und Humor konzentriert, darüber hinaus hatten des Öfteren auch Gesicht, Frisur oder Körperbau einen gewissen Einfluss auf meinen Gefühlshaushalt ausgeübt – das Benutzen eines Extralöffels für die Marmelade indes hatte nie eine Rolle gespielt.
Leicht irritiert kommentierte ich den Satz meines Bekannten mit einem spärlichen „Aha“, mehr wusste ich nicht zu sagen. Das schien meinem Gegenüber keine angemessene Reaktion zu sein, jedenfalls musterte er mich kurz, eröffnete mir dann, dass er nun dringend weiter müsse, drehte sich um und schritt davon.
Ich ohrfeigte mich innerlich für mein fehlendes Einfühlungsvermögen; und um zumindest im Nachhinein einen Hauch von Empathie aufzubringen, versuchte ich, mir in einer Art Gedankenexperiment die Situation meines Bekannten bildlich mit liebevollen Details auszumalen, indem ich mir folgendes Szenario zusammenfantasierte:
Ein frisch verliebtes, von der Liebesnacht noch trunkenes sowie zerzaustes Pärchen hockt beim ersten gemeinsamen Frühstück am Küchentisch. Sie werfen sich Luftküsse zu, reichen einander die duftenden Brötchen und schwärmen davon, wie schön das Leben sei. Da greift sie zum Marmeladenglas, übersieht den Teelöffel, den er beim Tischdecken danebengelegt hat, und taucht das mit einer Butterschicht beschmierte Messer in die Himbeerkonfitüre. Ihn durchzuckt es, mit feuchten Augen glotzt er das liebliche Wesen an, das mit dem Buttermesser die Konfitüre durchwühlt.
„Ist irgendwas?“, fragt sie, nachdem sie sein Stieren bemerkt hat.
Er schluckt. „Nein, nein! Alles in Ordnung!“, sagt er und schnappt sich wenige Minuten später das Glas, um mit dem Löffel unauffällig die Stellen rauszufischen, in denen die Butterreste kleben. Kann ja mal passieren, denkt er sich, vergibt der Geliebten und streichelt als Zeichen der Vergebung jene Hand, die das butterbeschmierte Messer in das Marmeladenglas gestoßen hat.
Beim nächsten gemeinsamen Frühstück hocken die beiden erneut beieinander, knuddeln und küssen sich, lassen einander gegenseitig vom eigenen Brötchen abbeißen und schwärmen vom Glück der Liebe. Um dieses Glück nicht zu gefährden, hat er dieses Mal vorgesorgt und die Konfitüre in ein Schälchen umgefüllt, und das Löffelchen hat er nicht danebengelegt, sondern direkt in das rote Gelee gesteckt. Doch als sie sich das Schälchen greift, ignoriert sie das darin steckende Löffelchen, taucht erneut das Messer in die Konfitüre und hinterlässt dicke Butterspuren.
Er schluckt, starrt auf die hinterlassenen Butterspuren, drückt den Rücken durch, räuspert sich und sagt: „Du Schatzi, da steckt extra ein Löffel in dem Schälchen. Den darfst du benutzen.“
Dabei tätschelt er ihre linke Hand.
Sie zieht ihre Hand weg, sieht ihn irritiert an und fragt: „Wieso soll ich denn einen Löffel benutzen?“
„Na wegen der Butter an dem Messer! Die bleibt in der Konfitüre kleben, wie du ja selbst sehen kannst.“
Er nimmt das Schälchen und hält es ihr unter die Nase.
Sie rückt ein Stück von ihm ab, schüttelt den Kopf: „Das ist doch nicht dein Ernst, oder?!“
„Doch! Wieso denn nicht?“
„Was bist du für ein Spießer!“
Er reißt die Augen auf, sagt mit beleidigtem Ton: „Das hat doch nichts mit Spießigkeit zu tun.“
„Ach nee, was denn sonst?!“
„Es geht um Schimmelgefahr! Die Butterspuren könnten schimmeln.“
„Ach, so ein Quatsch!“
„Das ist kein Quatsch!“
„Natürlich ist das Quatsch!“
„Nein, ist es nicht!“
So geht das zehn Minuten hin und her, bis die beiden verstummen, mit einem Meter Abstand voneinander vor sich hinschmollen und lustlos auf ihren Brötchenbissen kauen, die ganz plötzlich nicht mehr dieses herrliche Aroma frisch gebackener Brötchen in ihrem Munde verströmen, sondern nur noch wie pappige Pampe den Mundraum verkleistern.
Der Appetit auf Kuschelei und Liebesglück ist erloschen; stattdessen stellen die beiden, jeder im Stillen für sich, fest, dass der bis vor Kurzem blind geliebte Partner doch so einige fragwürdige Charaktereigenschaften an sich hat, die es in den kommenden Wochen durchaus näher unter die Lupe zu nehmen gilt – man möchte sich ja nicht leichtfertig für das restliche Leben an einen Menschen binden, der letztlich allerhöchstens zum Lebensabschnittsgefährten taugt.
Und während sie stumm vor sich hinkauen, fragen sie sich, wo es geblieben ist – das herrlich berauschende Gefühl des Liebesglücks. War das Leben eben nicht noch leicht, fluffig und süß wie Himbeerkonfitüre?
(veröffentlicht Ende 2014 in der Anthologie: Zeit – Tempo – Time – mountain stories 2014/2015)