Dieser Text, der das Verhältnis zwischen Bremer Neustadt und Viertel reflektiert, hat inzwischen ein paar Jahre auf dem Buckel. Mehrere Male habe ich ihn öffentlich gelesen und immer wieder haben vereinzelte Zuhörer*innen ihn als eine Art Dissen des Viertels und der Viertellinis** verstanden. Das ist natürlich ein Missverständnis, denn in Wahrheit ist der Text* eine große Liebeserklärung, nicht nur an die Neustadt, sondern eben auch ans Bremer Viertel. Gerade in der aktuellen Situation, in der Kneipen, Klubs und subkulturelle Nischen durch die Folgen der Corona-Pandemie in ihrer Existenz bedroht sind, will ich nochmal betonen, dass Bremen ohne einige der im Text genannten Orte, die unmittelbar mit dem Ostertorsteinviertel verknüpft sind, um einiges ärmer wäre. Umso wichtiger, dass diese Orte erhalten bleiben!
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Anarchie im Aldi
Schlägereien im Discounter, Blockwartgehabe, existenzielle Erfahrungen. Manche mag das möglicherweise an die Situation der ersten „Corona-Wochen“ in Deutschland erinnern, hat aber rein gar nichts damit zu tun. Stattdessen sind es Schlagwörter zu einem über zehn Jahre alten Text, den ich in einer Audiofassung von 2013 wiederentdeckt habe. Würde ich vermutlich heute nicht mehr so schreiben, weil vielleicht etwas zu überdreht, zu slapstickartig und in seinem satirischen Erzählton (der natürlich in keiner Weise meine persönliche Meinung ausdrückt, sondern die Haltung eines fiktiven Icherzählers) stellenweise ein bisschen sehr böse gegenüber älteren Mitmenschen*, aber irgendwie mag ich den Text trotzdem immer noch, vor allem das schwarzhumorige Verhandeln eines Generationenkonflikts, das Nachzeichnen, wie sich aus gekränkter Hilflosigkeit Aggressionen entwickeln, und nicht zuletzt den in gewisser Weise versöhnlichen Schluss.
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Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen
Der (Wieder)Aufbau einer Mauer, aus Teilen der Berliner Mauer, allerdings nicht in Berlin, sondern in Bremen – und zwar als ein Kunstprojekt, das vielleicht doch vielmehr ist als bloße Kunst. Das war die Ausgangsidee für meinen Text, den ich für die Literarische Woche 2009 zum Thema „Mauerfälle“ geschrieben und im Rahmen der Literarischen Woche im Bremer Kulturzentrum Lagerhaus gelesen habe. Es treten auf: Bremer Neustädter, Michail Gorbatschow, Helmut Kohl, Wachtruppen, Bremer Senatoren, ein Künstler, ein Stockentenpaar.
Der Lesung vorausgegangen war eine Ausschreibung des Bremer Literaturkontors, in der junge Autor*innen aus Bremen dazu eingeladen wurden, Texte zum Thema „Mauerfälle“ zu schreiben. Eine Freundin hatte mich darauf hingewiesen, und tatsächlich schrieb ich einen Text, den ich am letzten Tag der Bewerbungsfrist persönlich im Literaturkontor ablieferte. Ich erinnere mich noch ganz gut an die Szene: Es muss Anfang November gewesen sein – es herrschte trübstes Bremer Schmudelwetter –, als ich, eingepackt in meinem alten BW-Parka, in der Villa Ichon an die Tür des Kontors klopfte, eintrat, „Hallo“ sagte, der Geschäftsführerin Angelika Sinn den Umschlag mit meinem Text in die Hand drückte und ruckzuck wieder verschwand.
Luftballonhinauskatapultierdorfmeister
Im Mai 2015 war ich in Bremen-Walle im Brodelpott zu Gast bei der Veranstaltungsreihe friendly friday. Dort ist die folgende Aufnahme meines Textes Luftballonhinauskatapultierdorfmeister entstanden, den ich an jenem Abend zum ersten Mal öffentlich gelesen habe. Viel Freude beim Hören!
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In the Huckelriede Undergrowth
So there it is, barely three hundred yards from my front door, behind the dyke the first International Huckelriede Kiosk Festival. My neighbourhood hosting an international event?
I’m standing on the dyke top with the scruffy, neglected playground and Buntentorsteinweg, the main road, behind me and, before me, the Kleine Weser, the narrow southern arm of the large river that divides our city. On the grass below me is the familiar old kiosk hut, from which, however, nothing has been sold for over a year, but into which new life has now returned. And: it’s enjoying company for a few days four other kiosks, lots of long beer tables and benches, sun loungers, bales of straw and a tepee, in which the Huckelriede singer-songwriter is sitting and playing his guitar.
‘What’s that supposed to be?’ asks a man with a pair of nineteen-fifties glasses on his nose and a poodle on a lead. I shrug my shoulders and reply, ‘Art, probably.’ He gives a brief sniff, has a good look round and turns to me again. ‘Art?’ I nod; he shakes his head.
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Schnaps gegen Kafka
„Schnaps gegen Kafka“ ist ein Text, den ich für den 1. Teil der Lesereihe „Kafka in der Arschtasche“ geschrieben und bei der 5. Ausgabe noch einmal in einer überarbeiteten Version gelesen habe.
Viel Spaß beim Hören & nicht vergessen: Erzähler & Autor sind natürlich nicht identisch:-)
Das Los des Flaschensammlers ein Märchen
Es war einmal in Bremen ein Mann, der hatte keine Arbeit und nicht viel Geld, aber einen Traum: Er träumte davon, eines Tages bei der jährlichen Bürgerparktombola ein Auto zu gewinnen. Zwar besaß er keinen Führerschein mehr, dennoch sehnte er sich danach, mit einem eigenen Wagen zur Nordsee zu fahren, um aufs Meer hinauszuschauen und die großen Schiffe mit der Autohupe zu grüßen.
Da der Mann es sich nicht leisten konnte, täglich aus eigener Tasche die Lose zu bezahlen, ging er während der Tombola-Wochen jeden Abend zum Bremer Bahnhofsplatz und wühlte in den Mülleimern nach Pfandflaschen. Das Pfand löste er im Supermarkt ein, um sich am nächsten Tag an den kleinen Buden vor dem Bahnhof zwei oder drei Lose zu kaufen – je nachdem wie viel Geld er durch die Flaschen zusammenbekommen hatte.
In all den Jahren hatte er hin und wieder verschiedene Preise gewonnen: mehrmals rosafarbene Papierservietten oder Frühstücksflocken einer Bremer Firma, auch Schokolade, Lakritze oder Kinogutscheine hatte ihm das Losglück beschert, und einmal sogar eine Eintrittskarte für ein Spiel im Weserstadion.
Obwohl ihm die Frühstücksflocken und die Lakritze geschmeckt und der Kinofilm und das Fußballspiel gut gefallen hatten, war er mit seinen Preisen nicht glücklich, denn er wollte das Auto gewinnen und nicht Servietten oder Kinogutscheine.
„Nie habe ich Glück“, dachte er, gab trotzdem nicht auf, sondern versuchte es jedes Jahr von Neuem. Und so ergab es sich, dass er eines Tages wieder zu einer Losbude auf dem Bahnhofsplatz ging, um sich vom Erlös der eingesammelten Pfandflaschen zwei Lose zu kaufen. Das erste Los war eine Niete, auf dem zweiten jedoch stand eine Gewinnnummer. Der Mann hastete zur Gewinnausgabe vor der Bahnhofshalle und schob der Frau hinter dem Tresen das Los zu.
KERBEN IM HUCKELRIEDER DICKICHT
Nun ist es da, knapp 300 Meter von meiner Haustür entfernt, hinterm Deich: das erste internationale Huckelrieder Kiosk-Festival. Mein Stadtteil als Herberge eines internationalen Events?
Ich stehe auf der Deichkrone, im Rücken den verlotterten Spielplatz und den Buntentorsteinweg, vor mir die Kleine Weser. Auf der Wiese zu meinen Füßen steht die vertraute Kioskbude, in der schon seit über einem Jahr nichts mehr verkauft wird, in die jetzt aber neues Leben eingekehrt ist; zudem hat sie für ein paar Tage Gesellschaft bekommen von vier weiteren Kiosken, zahlreichen Bierbänken, Sonnenstühlen, Strohballen und einem Tipi, in dem der Huckelrieder Liedermacher sitzt und Gitarre spielt.
„Was soll das sein?“, fragt mich ein Mann mit Fünfzigerjahrebrille auf der Nase und einem Pudel an der Leine. Ich zucke die Schultern, sage: „Wahrscheinlich Kunst.“ Er schnieft kurz, lässt seinen Blick kreisen, sieht mich wieder an: „Kunst?“ Ich nicke, er schüttelt den Kopf.
„Na denn. Komm Hansi, das ist nichts für uns! Das ist Kunst.“ Sagt es und schleift seinen Pudel hinter sich her, der so ausschaut, als wäre er gern noch ein bisschen geblieben. Ich blicke den beiden nach, sinniere einen Augenblick über den Stellenwert von Kunst im Leben von Pudelbesitzern und steige dann hinunter zur Deichschartschreiberin, einer befreundeten Schriftstellerin, die im wiederbelebten Kiosk hinter einer Schreibmaschine sitzt und auf Geschichten wartet, wenn sie nicht im Stadtteil auf Entdeckungstour geht, um selbst Geschichten aufzuspüren – so wie heute, wo sie mit mir zum Golfen verabredet ist.
LIEBESLÖFFEL
Vor ein paar Tagen traf ich in der Innenstadt zufällig einen ehemaligen Studienkollegen, den ich seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte. Früher hatten wir beide oft stundenlang in Kneipen die Köpfe zusammengesteckt, über Projekten gebrütet oder einander von unseren meist armseligen Frauengeschichten berichtet; doch nach dem Studium hatten wir uns peu à peu aus den Augen verloren.
Nun stand er wieder vor mir, trübte meine Wiedersehensfreude jedoch dadurch, dass er mich in ein sonderbar anmutendes Small Talk-Geplänkel verwickelte. Nach einer minutenlangen Oberflächenerkundung kam er schließlich zur Sache und verkündete stolz, dass er vor wenigen Tagen geheiratet habe.
„Wir passen wirklich gut zueinander“, sagte er. „Wir benutzen beide beim Frühstück einen Extralöffel für die Marmelade.“
Ich stutzte. In all den Jahren der Partnersuche hatte ich mich auf Kriterien wie Charakter, Intelligenz und Humor konzentriert, darüber hinaus hatten des Öfteren auch Gesicht, Frisur oder Körperbau einen gewissen Einfluss auf meinen Gefühlshaushalt ausgeübt – das Benutzen eines Extralöffels für die Marmelade indes hatte nie eine Rolle gespielt.
Leicht irritiert kommentierte ich den Satz meines Bekannten mit einem spärlichen „Aha“, mehr wusste ich nicht zu sagen. Das schien meinem Gegenüber keine angemessene Reaktion zu sein, jedenfalls musterte er mich kurz, eröffnete mir dann, dass er nun dringend weiter müsse, drehte sich um und schritt davon.
Ich ohrfeigte mich innerlich für mein fehlendes Einfühlungsvermögen; und um zumindest im Nachhinein einen Hauch von Empathie aufzubringen, versuchte ich, mir in einer Art Gedankenexperiment die Situation meines Bekannten bildlich mit liebevollen Details auszumalen, indem ich mir folgendes Szenario zusammenfantasierte:
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DER SPUCKENDE ZWERG
„Es war ein trauriger Tag, als ich in meiner Einzimmerwohnung auf einem Holzstuhl stand. Ich hatte das platt gesessene Sitzkissen heruntergenommen, um nicht darauf auszurutschen. Den Strick hatte ich mit dem einen Ende an einem Dachbalken befestigt, das andere Ende hatte ich zu einer Schlinge gebunden und mir um den Hals gelegt. Der Strick war alt und brüchig; ich konnte nur hoffen, dass er für mein Vorhaben ausreichen würde. Einen besseren Strick hatte ich mir nicht leisten können – auch das Drehbuch meines Abgangs sollte mit der Feder der Armut geschrieben werden. Und das mir, dem vielleicht begnadetsten Poeten unserer Zeit! Glauben Sie mir: Selbst Hölderlin und Nietzsche, meinen von ihrer Zeit verkannten Dichterkollegen, dürfte weniger Leid widerfahren sein als mir.
Mit meinen Armen versuchte ich das Gleichgewicht zu halten, was der Stuhl mit einem spöttischen Knarren kommentierte. Nicht einmal in diesem entscheidenden Augenblicke ward mir Stille gegeben. Des Nachts rumorten die Mäuse auf dem Dachboden und am Tage … an jenem Tage knarrte ein schäbiger Holzstuhl, auf dem ich verharrte, um noch einen letzten Blick auf meinen vergoldeten Bilderrahmen zu werfen, den ich eigenhändig an die Wand genagelt hatte.
Dieser Rahmen umrandete mein Meisterwerk – den Spuckenden Zwerg. Der Spuckende Zwerg war ein Gedicht … Ach, was sage ich: Er war das Gedicht! Der Höhepunkt meines Schaffens!
Damit Sie meinen Stolz besser nachvollziehen können, wäre es an dieser Stelle wohl angebracht, das Gedicht zu zitieren. Also, nun gut:
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