Monatsarchiv: September 2015

Wort der Woche

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Labertasche

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Menschen im Wartemodus

Erpenbeck - gehen

Jenny Erpenbeck schreibt über Flüchtlingsschicksale in Berlin

Aktueller geht es kaum. In ihrem neuen Roman „Gehen, ging, gegangen“ setzt sich Jenny Erpenbeck mit genau dem Thema auseinander, das seit Wochen die öffentlichen Debatten beherrscht – der Flüchtlingsfrage. Ausgangspunkt ihres Romans ist das Protestcamp, mit denen Geflüchtete zwischen 2012 und 2014 auf dem Berliner Oranienplatz gegen das Asylverfahrensgesetz demonstrierten. Die 1967 in Berlin geborene Autorin hat mit einigen von ihnen Gespräche geführt, recherchiert und alles zu einer Art Tatsachenroman verarbeitet.

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Publikumsverachtungs-

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Die desillusionierende Erkenntnis infolge eines wirkungslosen Sprunges

Hydeparkbahn 

Ich öffne die Tür zur Straße, ich springe von der allerletzten Stufe des Hauses, und jetzt schwebe ich, und mein in Desoxyribonukleinsäuresequenzen gespeicherter Wuchs, meine Fähigkeit, mich an verschiedene Momente meiner Kindheit und Inhalte meiner Schulbildung zu erinnern, die Gefühle, die ich einmal hatte oder verdrängt oder vergessen habe, die Menschen, die mich geprägt haben oder verstümmelt oder verwöhnt, alle Möglichkeiten, die aus der Verschmelzung eines Spermiums meines Vaters und einer Eizelle meiner Mutter vor 9.964,5 Tagen realisiert wurden in diesem einen semipermeablen, von dem ihn umgebenden Gasgemisch unscharf getrennten Gegenstand, schlagen in genau diesem Moment auf der Betonplatte des Gehwegs auf, und die einzige Auswirkung, die das auf die Welt hat, sind feine Schwingungen auf der Oberfläche einer Ölpfütze am Straßenrand, weit unterhalb der Schwelle meines Wahrnehmungsbereichs.“

Heinz Helle „Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin“

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Aura mit Nebenwirkungen

Setz Indigo

Es gibt Bücher, die wirken wie ein einziges großes Fragezeichen – so mysteriös, labyrinthisch und verwirrend sind sie. „Indigo“, das knapp 500 Seiten starke Werk des österreichischen Schriftstellers Clemens J. Setz, ist ein solches Buch, und zwar ein derart fein geschnitztes, dass man es dem Autor nicht übel nehmen mag, dass er mehr Fragen als Antworten in die Hirnwindungen des Lesers streut. Der Titel des Romans bezieht sich auf eine esoterische Theorie, dass es Kinder gebe, von denen eine indigofarbene Aura ausgehe. Aus diesem spirituellen Mumpitz spinnt Setz das Fundament seines Romans, in dessen Zentrum jene sogenannten Indigo-Kinder stehen. Allerdings haftet diesen keineswegs eine sanft sphärische Aura an, sondern sie umgibt vielmehr ein radioaktiver Radius, der alle Menschen, die sich zu lange in diesen hineinwagen, verstrahlt. Die „Opfer“ werden von Migräne, Übelkeit oder Schwindel geplagt, weshalb die Eltern ihre Sprösslinge auf die Helianau, eine spezielle Internatsschule für Indigo-Kinder, abschieben.

In diesem Internat tritt im Jahr 2006 ein junger Mathematiklehrer sein Praktikum an. Dieser Lehrer heißt Clemens J. Setz. Neben dem Namen gibt es auch äußerliche sowie biografische Übereinstimmungen zwischen dem Schriftsteller Setz und dem Icherzähler Setz. Diese Jonglage mit seinem Namen sowie der eigenen Identität dient dem Autor, um ein Verwirrspiel mit Fiktion und Realität zu treiben. Mithilfe diverser in das Buch eingewebter Dokumente, Anekdoten und Fotos fingiert Setz eine Authentizität, die Irritationen hinterlässt.

Parallel zur Geschichte des Lehrers verläuft ein zweiter Erzählstrang, der im Jahr 2021 spielt und sich dem ehemaligen Internatszögling Robert Tätzel widmet. Tätzel hat während des Erwachsenwerdens nach und nach seine fatale Aura eingebüßt, ist aber dennoch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Er bleibt ein aggressiver Außenseiter, der kaum Empathie oder Liebe für andere Menschen aufzubringen vermag. Die beiden Erzählstränge verweben sich mit der Zeit immer stärker und laufen schließlich zusammen – was jedoch nicht bedeutet, dass sich damit alle Fragen klären.

Der vor fast genau drei Jahren veröffentlichte Roman hat es im Gegensatz zu Setz‘ aktuellem Tausendseitenwälzer („Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“) im September 2012 von der Longlist auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft, ihn aber letztlich nicht gewonnen, was unter anderem daran liegen dürfte, dass „Indigo“ keine fluffige Lektüre ist, die ein breites Publikum auf dem Sofa wegschmökert. Es ist ein Buch, das seine Leser fordert. Die vielen Rätsel verwirren und locken gleichzeitig. Lust zum Weiterlesen macht neben der Rätselhaftigkeit die stilsichere Sprache, mit der Setz sein Werk zubereitet hat; insbesondere verzaubern vereinzelte Formulierungen, die wie Leuchttürme hervorragen – so originell oder schön sind sie. Und so sitzt man nach dem Umblättern der letzten Seite da und fragt sich, ob das Fragezeichen, das sich einem während des Lesens in die Gesichtszüge gebrannt hat, nicht genauso gut ein Lächeln sein könnte?

Clemens J. Setz: Indigo. Suhrkamp, Berlin. 479 Seiten, 22,95 €.

(September 2012)

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Rückblick auf den Sommer – Hundeschlecker –

algarve-hund

Like ice in sun. Speiseeis für Hunde. Kein Scheiß. Gibt´s wirklich. Kommt aus Heiligenfelde … oder war´s Heiligenrode? Egal, irgendwas mit heilig jedenfalls. Da wird´s produziert – das Leberwursteis für die treuesten Freunde des Homo sapiens. Nur das mit dem Schlecken klappe angeblich noch nicht so richtig, die meisten Vierbeiner schlängen ihr Leckerli – den eigentlichen Genuss missachtend – einfach in einem Bissen runter, so die Erfinder des Hundeeises.

Tja, da gilt bei Pudeln und Rottweilern wohl das Prinzip: Augen zu und durch, damit es anschließend Krauleinlagen oder Streicheleinheiten von Herrchen beziehungsweise Frauchen gibt – pures Sommerglück zu zweit:)

 

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Kognitionsbüchsen

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Gramsci auf den Fersen

Bossong

Anfang Juli rückte die 1982 in Bremen geborene und in Berlin lebende Nora Bossong ohne ihr Zutun beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in den Fokus der literarischen Öffentlichkeit. Die Autorin selbst war zwar gar nicht beim Wettlesen in Klagenfurt dabei, doch die Schriftstellerkollegin Nora Gomringer hatte sie zur Protagonistin ihres (später mit dem Bachmannpreis prämierten) Textes gemacht. So schnell kann es gehen, dass man als real existierendes Individuum zur literarischen Figur wird. In der Umwandlung realer Personen zu literarischen steht Nora Bossong ihrer Namensvetterin allerdings in nichts nach – in ihrem aktuellen Roman spielt ebenfalls eine aus der Realität entliehene Person die zentrale Rolle.

„36,9°“ ist der inzwischen vierte Roman der Absolventin des Leipziger Literaturinstituts, die 2001 mit dem Bremer Autorenstipendium, 2007 mit dem Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis, 2011 mit dem Kunstpreis Berlin und 2012 für ihren zweiten Gedichtband „Sommer vor den Mauern“ mit dem renommierten Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet worden ist. Bossong ist also nicht bloß Gegenstand der Literatur (im Text ihrer Kollegin), sondern mischt selber munter mit im Kulturbetrieb – im Gegensatz zu der historischen Hauptfigur ihres Romans, die das Mit- und Einmischen bedauerlicherweise schon hinter sich hat. Die Rede ist vom bereits vor knapp 80 Jahren verstorben Philosophen, Autor und Politiker Antonio Gramsci (1891-1937), dessen Gefängnishefte nach wie vor als bedeutende Dokumente marxistischer Theorie gelten.

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Farbige Frauenporträts

ZaimogluDer einstige Rebell der Migrantenliteratur Feridun Zaimoglu präsentiert mit „Der Mietmaler“ nicht nur eine neue Liebesgeschichte, sondern zeigt sich zudem selbst als Maler.

Mit „Kanak Sprak“ krachte Feridun Zaimoglu 1995 in die deutsche Literaturszene. Das furiose Debüt des deutsch-türkischen Schriftstellers erzählt die Geschichten einer jungen Generation türkischstämmiger Deutscher, die nicht nur am Rande der Gesellschaft leben, sondern auch ihren eigenen multi-ethnischen Jargon pflegen. Insbesondere der authentisch widerborstige Sound dieser hybriden Jugendsprache von der Straße war der deutschen Literatur bis dahin unbekannt. Sätze wie folgender sorgten nicht nur bei einigen Rezensenten für Irritationen: „Das ist die niggernummer, kumpel, es gibt die saubere kanakentour und die schmutzige, was auch immer du anstellen magst, den fremdländer kannst du nimmer aus der fresse wischen“. Zaimoglu wurde mit „Kanak Sprak“ und den Nachfolgewerken zum Sprachrohr einer Gruppe, die durch das Raster der Integration gerasselt war und auf einen romantisierenden Multikulturalismus pfiff.

Mit diesen ersten literarischen Werken avancierte der 1964 in der Türkei geborene, jedoch in Deutschland aufgewachsene Zaimoglu zu einer der kraftvollsten Stimmen der sogenannten Migrantenliteratur. Für manchen Feuilletonisten war er vorerst allerdings vor allem eine Art „Ghetto-Rebell“ – ein zwar spannendes, aber literarisch fragwürdiges Phänomen. Das änderte sich mit der Zeit: Zaimoglu wollte nicht ewig der „Ghetto-Kasper“ sein, sondern als Erzähler ernst genommen werden. Dieses Ziel erreichte er spätestens, als er 2003 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb für seine Erzählung „Häute“ mit dem Jurypreis ausgezeichnet wurde. Dieser Text ist in dem Erzählungsband „Zwölf Gramm Glück“ zu finden, der 2004 erschien und eine Wandlung erkennen lässt, die sich in „Leyla“ (2006), „Liebesbrand“ (2008) sowie „Hinterland“ (2009) fortsetzt. In den drei genannten Romanen spielt weiterhin die Herkunft des in Kiel lebenden Autors eine zentrale Rolle; doch Zaimoglu ist im Laufe der Jahre zu einem versierten Erzähler mit einer eigenen poetischen Sprache gereift.

Mit seinem letzten Roman „Ruß“ (2011) hat sich Zaimoglu erstmals ganz von türkischen Motiven gelöst. Stattdessen kommt der Malerei in dieser Ruhrpott-Liebesgeschichte eine Nebenrolle zu. Das ist insofern erwähnenswert, da der Autor selbst malt und in seinem neuen Buch einen Maler in den Mittelpunkt stellt. „Der Mietmaler“ ist die Geschichte Edouards, eines 38-jährigen Künstlers, der die Frauen wie Schaustücke betrachtet und abschätzt, ob sie es wert sind, auf Papier gebannt zu werden. Jede Frau ist ein potenzielles Motiv – auch seine Partnerin Sonja, die dieses Belauertwerden von dem „tintenverspritzenden Tier“ allerdings satt hat. So steht eine Trennung am Anfang dieser Liebesgeschichte. Frisch abserviert schleicht Edouard nach Hause, entdeckt auf seinem Heimweg an einer Bushaltestelle in einer attraktiven Putzfrau jedoch bereits sein nächstes Modell, das ihn zu seiner Leinwand treibt: „Ich stürmte die Treppen hoch zum dritten Stock, schloss auf, ließ die Tasche sofort fallen, griff zum Skizzenblock.“

Zaimoglus Ich-Erzähler ist ein manischer, doch mäßig erfolgreicher Maler. Deshalb nimmt er den gut bezahlten Auftrag einer reichen Witwe an, sie zu porträtieren: „Sie hatte das Geld, ich hatte die Farben – ich willigte ein.“ Die Auftraggeberin entpuppt sich indessen als scharfzüngig resolute Dame, die es gewohnt ist, die Richtung vorzugeben. Sie besteht darauf, anständig gemalt zu werden – kein neumodischer Schnickschnack, kein psychologisierendes Qualgesicht. Für Edouard ist diese Nora Sillinger Herausforderung wie Provokation. Sie reizt ihn mit ihrer herrischen Art und hinterfragt zugleich seine Arbeitsweise, die Frauen in seinen Bildern nicht bloß abzubilden, sondern ihre Psychen auszuloten. Diese Methode des Malers findet Ausdruck in Zaimoglus Erzählweise. Immer wenn Edouard in einer Frau ein mögliches Motiv entdeckt, wird dieser eine kleine Geschichte angedichtet – sodass in den Handlungsstrang der Erzählung abschweifende Prosaminiaturen eingewebt sind. Dadurch entsteht ein facettenreiches Panoptikum farbiger Frauenporträts. Bei einigen dieser Nebengeschichten wechselt Zaimoglu auch die Erzählperspektive, sodass der Leser zwischendurch mit den Augen einer Bürgerlichen einen Blick auf den Protagonisten werfen darf: „Fussel an seinem Rücken, Falten an seiner Hose, Stoff an den Kniekehlen fadenscheinig. Von diesem Mann musste man sich fernhalten.“

Edouard ist eine nachlässig gepflegte, leicht zweifelhafte Künstlerexistenz mit „Stiftschwiele am Mittelfinger, Graphitstaub unter den Nägeln“. Dennoch scheint Nora Sillinger Gefallen an diesem Bohemien zu finden, und auch die Gefühle des gemieteten Malers gegenüber seiner zwar älteren, doch immer noch attraktiven Auftraggeberin sind ambivalent. Das Tableau für eine Liebesgeschichte ist somit angerichtet. Ob die beiden zueinanderfinden, soll hier nicht verraten werden.

Zaimoglus „Mietmaler“ ist eine kleine, hübsch arrangierte Erzählung, die vor allem bestimmt ist durch den Duktus knapper Sätze, denen trotz ihrer Kürze poetische Kraft innewohnt. Neben den literarischen Porträts finden sich in dem Buch außerdem 18 farbige Bildtafeln – bis auf eine Ausnahme alles Frauenporträts, die der Maler Zaimoglu zu Papier gebracht hat. Es sind Gesichter mit großen traurigen Augen, kantigen Nasen und in Rottönen glühenden Mündern. Und so hält man mit „Der Mietmaler“ ein fein gestaltetes Büchlein in den Händen, das allerdings in keiner Weise an einen „Ghetto-Rebellen“ erinnert. Irgendwann werden wohl auch die Wildesten zahm.

Feridun Zaimoglu: Der Mietmaler. Eine Liebesgeschichte. Mit 18 farbigen Bildtafeln. Langen Müller Verlag, München 2013. 136 Seiten, 19.99 €.

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