Monatsarchiv: Juni 2015

Elektrokratie DDR

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Thomas Brussig streicht die Wiedervereinigung

Die Idee ist nicht neu, schon Simon Urban hat vor knapp vier Jahren in seinem satirischen Politthriller „Plan D“ ein Szenario entworfen, in dem die DDR weiterexistiert. Nun legt der 1964 in Ost-Berlin geborene Thomas Brussig mit einer fingierten Autobiografie nach und erzählt von seinem Leben als berühmter Schriftsteller in der Deutschen Demokratischen Republik, die nicht nur keine Wiedervereinigung erlebt hat, sondern mithilfe ihrer Vormachtstellung in der Entwicklung von Elektroautos sowie Windenergie „den Lebensstandard der Kuwaitis und den Staatshaushalt der Norweger“ anstrebt. Im Jahr 2014 gibt es in DDR zwar immer noch keine freien Wahlen, jedoch eine „Elektrokratie“, die ihre Bevölkerung mit Geld besticht.

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Gerollte Kinderwurstscheiben

Rübe ab

Die gerollte Scheibe Mortadella, die aus der Hand des Wurstfachverkäufers über den Tresen in die Kinderhand wandert („Na Kleiner, willst du eine Scheibe Kinderwurst?“). Gibt es das eigentlich noch? Bin in meiner Kindheit deswegen früher gern zum Metzger gegangen, auch wenn mir das Wort Mortadella fremd war – wir nannten das immer Kinderwurst, die Wurst für Kinder (später lächelte von diesen Wurstscheiben gar, vollkommen „kindergerecht“, ein drolliges Gesichtchen). Neben den üblichen Metzgereien gab es in unserem Ort noch einen speziellen Schlachter, der Pferdewürste verkaufte – das waren aber keine Würste für Pferde … Sprachkuriosa:-)

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Das Los des Flaschensammlers ein Märchen

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Es war einmal in Bremen ein Mann, der hatte keine Arbeit und nicht viel Geld, aber einen Traum: Er träumte davon, eines Tages bei der jährlichen Bürgerparktombola ein Auto zu gewinnen. Zwar besaß er keinen Führerschein mehr, dennoch sehnte er sich danach, mit einem eigenen Wagen zur Nordsee zu fahren, um aufs Meer hinauszuschauen und die großen Schiffe mit der Autohupe zu grüßen.

Da der Mann es sich nicht leisten konnte, täglich aus eigener Tasche die Lose zu bezahlen, ging er während der Tombola-Wochen jeden Abend zum Bremer Bahnhofsplatz und wühlte in den Mülleimern nach Pfandflaschen. Das Pfand löste er im Supermarkt ein, um sich am nächsten Tag an den kleinen Buden vor dem Bahnhof zwei oder drei Lose zu kaufen – je nachdem wie viel Geld er durch die Flaschen zusammenbekommen hatte.

In all den Jahren hatte er hin und wieder verschiedene Preise gewonnen: mehrmals rosafarbene Papierservietten oder Frühstücksflocken einer Bremer Firma, auch Schokolade, Lakritze oder Kinogutscheine hatte ihm das Losglück beschert, und einmal sogar eine Eintrittskarte für ein Spiel im Weserstadion.

Obwohl ihm die Frühstücksflocken und die Lakritze geschmeckt und der Kinofilm und das Fußballspiel gut gefallen hatten, war er mit seinen Preisen nicht glücklich, denn er wollte das Auto gewinnen und nicht Servietten oder Kinogutscheine.

Nie habe ich Glück“, dachte er, gab trotzdem nicht auf, sondern versuchte es jedes Jahr von Neuem. Und so ergab es sich, dass er eines Tages wieder zu einer Losbude auf dem Bahnhofsplatz ging, um sich vom Erlös der eingesammelten Pfandflaschen zwei Lose zu kaufen. Das erste Los war eine Niete, auf dem zweiten jedoch stand eine Gewinnnummer. Der Mann hastete zur Gewinnausgabe vor der Bahnhofshalle und schob der Frau hinter dem Tresen das Los zu.

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Krise konkret – Tristesse total

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In seinem Erzählband „Warte nur, es passiert schon was“ schildert Christos Ikonomou eindringlich, wie die Menschen in Griechenland von der Krise erschüttert werden.

In der Athener Nacht stehen fünf Rentner beisammen. Es ist Januar, weit nach Mitternacht, die Männer frieren. Jeden Einzelnen plagt ein körperliches Gebrechen, aber sie harren in der Kälte aus, warten darauf, dass die Renten- und Krankenversicherungsanstalt ihre Tore öffnet. Sie wollen als Erste da sein, damit sie am kommenden Morgen im Massenandrang nicht auf der Strecke bleiben. Sie kennen einander nicht, haben aber gemeinsam eine Eisentonne und eine Holzpalette von einer Baustelle zu ihrem Wartepunkt geschleppt, um ein Feuer zu entzünden, an dem sie sich wärmen können. Sie lassen eine Flasche Tsipouro herumgehen, erzählen einander trostlose Anekdoten, pöbeln sich gegenseitig an und sehnen sich nach den guten alten Zeiten: „Sie trugen eine Sehnsucht nach dem Vergangenen mit sich herum, die im Lauf der Zeit immer bitterer wurde, und statt sie mit Freude zu erfüllen, führte sie nur dazu, dass sie sich noch viel älter und hilfloser fühlten.“

Diese triste Geschichte von den fünf wartenden Rentnern findet sich in Christos Ikonomous Erzählband „Warte nur, es passiert schon was“. Das Buch ist 2010 in Griechenland erschienen, wurde 2011 mit dem griechischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet und liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Obwohl der 1970 in Athen geborene Autor, Journalist und Übersetzer seine Erzählungen bereits vor dem Ausbruch der großen griechischen Finanzkrise geschrieben hat, nehmen sie bereits viel von dem vorweg, was die Griechen in den vergangenen zwei, drei Jahren erleiden mussten: Armut, Not und Hoffnungslosigkeit.

Alle sechszehn im Band versammelten Erzählungen sind im heutigen Griechenland angesiedelt; und auch wenn es keine Reportagen sind, orientieren sie sich an der Realität und vermitteln ein Gefühl dafür, wie die Krise ganz konkret das Leben einzelner Menschen deformiert. Jene Arbeiter, Arbeitslose, Rentner und Heranwachsende, die deutsche Boulevardblätter nur noch unter dem respektlosen Begriff „Pleitegriechen“ zusammenfassen, bekommen bei ihm ein Gesicht, eine Geschichte und ein Schicksal.

Da ist unter anderem jener alleinstehende Vater, der seine Arbeit verloren hat. Nachts liegt er neben seinem Sohn im Bett und streicht ihm traurig über das hübsche blonde Haar. Beiden knurrt der Magen. Am frühen Morgen zieht der Vater los, mit dem Versprechen, für einen gedeckten Tisch zu sorgen. Aber der Mann hat weder Geld, noch Freunde, die ihm ein paar Scheine leihen würden. Den ganzen Tag hetzt er hilflos durch die Stadt. Die einzige Hoffnung ist seine erwachsene Tochter, die er abends treffen und um fünfzig Euro anpumpen will. Am Abend steht er jedoch immer noch alleine da. Ohne Geld. Bloß mit einer halb aufgegessenen Käsetasche in der Jacke und blutig gerissenen Händen.

Die sogenannten einfachen Leute sind die Protagonisten in Ikonomous Erzählungen. Arbeiter, die sich schäbig fühlen, weil sie ihre Jobs verloren haben, ihre Hypotheken nicht bedienen und ihre Familien nicht mehr versorgen können. Männer, die mit Schnaps oder Wein die Scham zu betäuben versuchen oder sich am liebsten selbst im Recyclingcontainer entsorgen würden. Oder es sind Frauen, die von ihren Männern im Stich gelassen werden, die um ihre Söhne und Töchter zittern und über den Fetzen ihrer Träume trauern. Alle Geschichten drehen sich um ein Gefühl des Ausgeliefertseins inmitten einer Welt, deren Spielregeln man nicht durchschaut und in der sich die Armut eingenistet hat: „Die miese, die niederträchtige Armut. Die ist nun auch ein Mitbewohner geworden. Ein Mitbewohner, eine Hausratte.“

Ikonomou schildert die Schicksale seiner Antihelden sehr plastisch sowie äußerst eindringlich in knappen Sätzen – und zwar meistens in einer kargen, dem Milieu entsprechenden Sprache, die eine melancholische bis düstere Atmosphäre verbreitet. Hie und da funkeln poetische Bilder wie Perlen inmitten einer Trümmerlandschaft auf und verströmen einen zittrigen, stets kurzlebigen Hauch von Hoffnung. Auch wenn an ein paar wenigen Stellen das Erzählverhalten unscharf oder der eine oder andere Vergleich bemüht wirkt, entfalten die Geschichten eine literarische Kraft, die sich im Laufe des Buches zu einem unentrinnbaren Sog steigert. Spannung schaffen zugleich die vielen Rückblenden, die Ikonomou in seine Geschichten einwebt. Hierdurch setzt er das dürftige Dasein der Gegenwart mit angenehmeren Tagen der Vergangenheit in Kontrast oder schildert die Wendepunkte im Leben seiner Protagonisten. Wendepunkte, nach denen es stets nur in eine Richtung geht: bergab.

Eines findet sich in den Erzählungen kaum: Zuversicht. Es herrscht eine totale Tristesse. Viele der Figuren scheinen gelähmt, warten ab, in der Hoffnung, dass etwas passiert. Und jene, die zu handeln versuchen, wirken wie Don Quijotes, die gegen unsichtbare Windmühlen anrennen.

Allein die letzte Erzählung stellt eine – jedoch nicht minder deprimierende Perspektive – in Aussicht. In einer kammerspielartigen Szene verbringt ein junges Paar die letzte Nacht in seiner Wohnung, die am nächsten Tag geräumt werden soll. Die beiden sind einem bereits zuvor in einer anderen Erzählung begegnet. Da drohte ihnen zwar bereits die Zwangsräumung, doch es herrschte noch verhaltener Optimismus: „Die Banken nehmen einem nicht einfach die Wohnung weg. Hier ist nicht Amerika. Irgendwie kriegen wir das hin.“

Nun hocken sie in dem leeren Haus, das bald einer Straße weichen soll. Und was erwartet die beiden? Bulgarien. Sie wollen auswandern, um im Ausland ihr Glück zu versuchen. „Schlimmer als hier“, sagt der Mann, „kann es nicht sein.“ Es gibt eine Hoffnung – doch die liegt fern der Heimat, im Exil.

Christos Ikonomou: Warte nur, es passiert schon was. Erzählungen aus dem heutigen Griechenland. A. d. Griech. übersetzt von Birgit Hildebrand. Verlag C. H. Beck, München. 256 Seiten, 19.95 €.

(April 2013)

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Genialer Bart mit Witz

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Eines Tages wird man sich für jeden Kalauer, den man ausgelassen hat, verantworten müssen.“ Der Penner aus der Lindenstraße hat das mal gesagt. Natürlich nicht in dieser nicht totzukriegenden Sonntagabendserie, wo er eben den liebenswürdigen Tippelbruder mimte, sondern im „echten Leben“, in dem er zwar zuweilen mit einem Clochard verwechselt wurde, aber vor allem in ganz anderen Rollen glänzte: als famoser Erzähler, kongenialer Übersetzer und hammermäßiger Rezitator, der mal eben so ganz lässig die prall gefüllte Kesselhalle des Bremer Schlachthofs in eine Ein-Mann-Arena verwandelt.

Habe das vor ein paar Jahren live erlebt, wie der wandelnde Bart auf der Bühne im Rampenlicht hinter einem Tisch hockt, eine Geschichte vorzulesen beginnt und sich abrupt mitten im Satz selbst unterbricht, indem er eine Anekdote einschiebt, die er en passant über eine Strecke von vier oder fünf Minuten gemächlich entspinnt, als wäre er gerade nicht mitten in einem anderen Text gewesen, den er dann allerdings nach Abschluss der Anekdote exakt dort fortsetzt, wo er sich selbst ins Wort gefallen war. Spätestens da habe ich begriffen, dass da eine ganze Menge Genialität hinter dem Graubart steckt, auch wenn ich Harry Rowohlt immer nur mit Bart denken kann. Sein Kollege F. W. Bernstein hat diese Bartaura in einem Interview zu Rowohlts Siebzigsten auf den Punkt gebracht: „Wie die meisten Menschen bin auch ich Harrys Bart begegnet, bevor ich Harry begegnet bin.“

Der Bart war natürlich auch das Erste, was ins Auge stach, als er damals auf die Bühne trat, aber seine Stimme und sein Witz übernahmen dann schnell die Hauptrollen. Die Lesung an dem Abend war zwar nicht mehr das legendäre „Schausaufen mit Betonung“, weil er zu dieser Zeit schon keinen Alkohol mehr trank, doch seiner Stimme wollte ich die Enthaltsamkeit gar nicht so recht abnehmen, denn da klangen immer noch die endlosen Liter Whiskey mit, die über all die Jahre die Kehle hinabgerauscht waren. Diese tief grollende Seebärstimme, die ohne Ende Kalauer und Anekdoten raushaute – zum Beispiel eben jene von einer Lesung in einem Theater, in das ihn der Türsteher nicht reinlassen wollte, weil er ihn für einen Penner hielt und nicht für den geladenen Schriftsteller, der an diesem Abend im Theater lesen sollte.

Ich wünsche Harry Rowohlt, dass ihm die Türsteher jetzt keinen Ärger bereiten, sondern ihn reinlassen in die Literaturkneipe, in der er dann hoffentlich mit Ernest Hemingway, Flann O’Brian, Dylan Thomas und all den anderen Größen, die er übersetzt hat, mit einem Glas Whiskey anstoßen, die Köpfe zusammenstecken und über Literatur schwadronieren darf. In diesem Sinne: Prost!

Anmerkung:

Sorry, die letzte Szene ist natürlich Kitsch, doch was soll man schreiben – ist halt scheiße, dass der Mann jetzt schon tot ist, wo so viele andere Nasen doch inzwischen neunzig oder noch älter werden …

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Vogelschau zwischen Raketenangriffen

Norbert Scheuer

Norbert Scheuer gelingt ein unaufgeregter Afghanistanroman

Tiere spielen im Werk des Schriftstellers Norbert Scheuer eine zentrale Rolle. Bachforellen, Hechte, Schleien und viele andere Fische tummeln sich in seinem äußerst lesenswerten Roman „Überm Rauschen“, der 2009 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. In seinem neuen, in diesem Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman „Die Sprache der Vögel“ sind es hingegen Kiebitze, Kolkraben, Goldammern und über ein Dutzend weiterer Vogelarten, die nicht nur den Text durchziehen, sondern zudem als Kaffeeaquarellzeichnungen im Buch abgebildet sind.

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Mit Nietzsche auf einem Tiger in Träumen hängend

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Vorgestern mit Nietzsche stumm auf meinem Sofa gesessen. Er fingerte minutenlang in seinem Walrossschnauzbart herum, bis er endlich eine Papierrolle zwischen den Schnurbarthaaren hervorzog, sie entrollte und einige Minuten (vor sich hinbrummend) studierte (während ich vergeblich versuchte, einen Blick auf das Geschriebene zu erhaschen); dann nickte Nietzsche und murmelte: „Hm, ach ja … das hätte ich durchaus zu Lebzeiten veröffentlichen können.“

„Was denn?“, fragte ich.

„Diesen Aufsatz über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn.“

Ich nickte eifrig. „Ja, wunderbarer Aufsatz, ist aber tatsächlich noch erschienen, bevor Sie das Zeitliche gesegnet haben“, sagte ich, und Nietzsche feuerte einen feurig bösen Blick in meine Richtung und sagte: „Wer hat Sie denn gefragt!“

Da verstummte ich sogleich, obwohl wir ja auf meinem Sofa saßen … aber hey: Das war nicht irgendwer neben mir, das war Friedrich Wilhelm Nietzsche!

Nachdem er erneut einige Minuten stumm da gesessen hatte, sah er mich wieder an (dieses Mal ganz milde) und fragte: „Was halten Sie von dieser Stelle? Was weiss der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu percipiren? Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluss der Blutströme, den verwickelten Faserzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seine Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend.“

Ich nickte wieder eifrig: „Ja, genau diese Stelle! Genau diese Stelle!“, sagte ich und steigerte mich hinein in einen Monolog über die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens nach absoluten Wahrheiten sowie die Fähigkeit des Menschen, sich mit Selbsttäuschungen über seine eigene Beschränktheit hinwegzutrösten; und während ein Wortschwall unaufhaltsam aus meinem Munde schwappte, saß der große Friedrich Wilhelm Nietzsche neben mir auf meinem Sofa … und Nietzsche, Nietzsche schnarchte.

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Bunter Schlüpfer im Terrarium

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Sommertag mit Wind, der Wolken vor sich hertreibt und durch das offene Fenster in meine Dachkammer pustet und Schreibblätter aufwirbelt. Auf dem Sofa genieße ich die Stille, die an diesen Nachmittag nur ein einziges Mal durchbrochen wird. Die Nachbarn im Haus gegenüber stehen im sechsten Stock hinter der Glasfront in der Küche ihres Appartments und schreien sich gegenseitig an – Pärchenzwist im Terrarium.

Sie im rosafarbenen Shirt und bunten Schlüpfer, er in mondänem Schwarz zwischen dem froschgrünen Plastikmobiliar, das mit Schaffellen bespannt ist. Monoton fuchtelt er mit seinen Händen in der Luft herum und brüllt so laut, dass sich seine Stimme überschlägt.

Nach Minuten des Brüllens und Fuchtelns verzieht er sich auf die Dachterrasse, brüllt ein letztes Mal in die Wohnung hinein und lehnt sich dann mit seinen Armen aufs Holzgeländer, an dem ein von ihm angebrachtes olivfarbenes Transparent hängt, das in weißen Großbuchstaben verkündet: LIEBE WIE DU LEBST.DE

 

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Die pralle Fabulierlust

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Pünktlich zum 75. Geburtstag von Urs Widmer bietet der Band „Gesammelte Erzählungen“ eine Auswahl aus der wundersamen Erzählwelt des Schweizer Schriftstellers.

Der Weltenbummler Egon taucht eines Abends, nach einem langen Aufenthalt in Südamerika, unverhofft bei einem Freund aus Jugendtagen auf. Der Freund (der zugleich der Erzähler dieser Geschichte ist) wohnt ein wenig abseits im Elsass in einem großen Haus, wo er mit seiner Frau und Vertrauten zusammenlebt. Die Hausbewohner heißen den Gast willkommen, machen es sich mit ihm im Saal ihres Hauses, das einst eine Bahnhofswirtschaft war, gemütlich, trinken Wein und beginnen zu erzählen – von der ersten großen Liebe, unerfüllten Leidenschaften und Abenteuern auf Naxos, in Südfrankreich oder Argentinien. Im Laufe der Nacht entwickelt sich ein großer Erzählreigen, der erst zum Ende kommt, als der Morgen an- und der Gast wieder aufbricht: „Wir standen vor dem Haus und sahen zu, wie Egon (…) in die Wiesen hinausging (…), in eine gewaltige Sonne hinein, die eben aus dem Horizont aufstieg.“

Liebesnacht“ heißt dieses fein arrangierte, Lebenslust und Melancholie verströmende Prosawerk, in dem eine Gemeinschaft für eine einzige Nacht beisammensitzt, um einer vergilbten Zeit wieder Farbe einzuhauchen. Zu finden ist diese knapp hundert Seiten lange Erzählung aus dem Jahr 1982 in einem frisch gedruckten roten Leinenband, der auf über 750 Seiten eine Vielzahl von Erzählungen des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer versammelt. Eine seiner bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten, „Der blaue Siphon“ (1992), findet sich zwar nicht in dem Buch, dafür allerdings eine vielfältige Auswahl anderer Erzähltexte aus den Jahren 1968 bis 2010. Den Auftakt bildet Widmers Debüt „Alois“, eine knallige, hin und her hüpfende Erzählung, angereichert mit Motiven aus Comic, Film, Musik und Sport. Bereits hier deutet sich die verspielt fantastische, mit einem leicht ironischen Grundton ausgestattete Erzählweise Widmers an – vielleicht noch ein wenig zu überdreht, indes vor praller Fabulierlust und skurriler Einfälle nur so strotzend.

Nicht mehr ganz so sprunghaft und abstrus geht es in der 1990 veröffentlichten Erzählung „Das Paradies des Vergessens“ zu. Zwar laufen auch hier mehrere Handlungsfäden parallel, doch die Geschichte eines Schriftstellers, dem sein Romanmanuskript abhandengekommen ist und der sich um eine Rekonstruktion bemüht, besitzt in Form wie Sprache klarere Konturen – ohne jedoch Originalität, Verspieltheit oder Witz einzubüßen.

Ob man nun die älteren oder jüngeren Erzählungen Widmers liest, allen haftet – mal mehr, mal weniger ausgeprägt – etwas Märchenhaftes an, das sich mithilfe einer zauberhaften Versponnenheit teilweise gar ins Surreale hineinsteigert. Manchmal überkommt einem beim Lesen von Erzählungen wie „Die Amsel im Regen im Garten“ (1971) oder „Reise nach Istanbul“ (2010) das Gefühl, da wuchern spontane Einfälle wie Kraut und Rüben zu einer krausen Textwildnis zusammen; doch das Famose ist, dieser Wildnis scheint eine geheimnisvolle Komposition innezuwohnen, denn die grotesk anmutenden Wuseleien bezaubern nicht minder als jene, die strukturierter geformt sind.

Urs Widmer nennt sich selbst gern einen „Erzähl-Dichter“, der in seinen eigenwilligen Fabulierwelten durchaus „möglichst viel gesellschaftliche Wirklichkeit spürbar werden lassen“ möchte. Und tatsächlich schimmert hinter jenen Tagtraummärchen, Liebesabenteuern sowie modernen Wild-West-Storys hie und da Zivilisationskritik durch. So heißt es zum Beispiel in der kurzen Erzählung „Der Müll an den Stränden“ (1994): „Wir haben die Taschen voller hochwirksamer Medikamente, mit denen wir das leiseste Unbehagen ins uns auf der Stelle bekämpfen und deren einzige Nebenwirkung ist, dass wir auch ein unverhofftes Glück nicht spüren.“

Nur selten lässt der Schweizer Autor seine Botschaft so deutlich durchblicken, denn moralinsauer sollen seine Texte selbstverständlich nicht klingen: „Ich will nicht einer sein, der mit erhobenem Zeigefinger dasitzt und belehrt.“ Dass er aber durchaus an gesellschaftlichen Prozessen interessiert ist, zeigen die immer wieder auftauchenden satirischen Beschreibungen des Fortschritts. In erster Linie jedoch changieren die Erzählungen Widmers zwischen Lust und Leichtigkeit, Sehnsucht und Schmerz sowie Wildheit und Lebensweisheit. In „Indianersommer“ (1985) erzählt er von den Freuden, Liebschaften und Leiden innerhalb einer Künstlergemeinschaft. Die Maler und Schriftsteller sind Lebenskünstler, die sich in die Kunst und die Liebe stürzen, um nicht vom Lebensschmerz zerrissen zu werden. Sie versuchen darüber hinaus sich ihre Kindheit zu bewahren, jene Zeit, die im Rückblick aufgrund ihrer Unschuld dem Leben im Garten Eden nahekommt: „Natürlich gibt es ein Paradies, die Zeit, in der wir noch nicht entdeckt haben, dass es den Tod gibt.“

Neben der Kindheit findet sich ein weiteres Motiv immer wieder in Widmers Erzählungen: der Vater. Eine Vatergestalt taucht in diversen Rollen in mehreren Erzählungen auf. Urs Widmers Vater war Übersetzer, und ein verhinderter Schriftsteller, der seinen geplanten Roman nie zu Papier brachte. So verwirklichte erst der Sohn den Traum seines 1965 verstorbenen Vaters. Dessen Tod empfindet Widmer rückblickend gar als Initialzündung für sein Schreiben: „Erst als er starb, verwandelte ich mich, fast auf der Stelle, in einen Schriftsteller.“ Und zwar in einen äußerst vielseitigen, denn neben den zahlreichen Erzählungen, Theaterstücken und Essays hat er mehrere Romane sowie eine Vielzahl von Hörspielen verfasst, und darüber hinaus Werke von Raymond Chandler, Joseph Conrad und anderen übersetzt.

Pünktlich zu Widmers 75. Geburtstag am 21. Mai würdigt der Diogenes Verlag – dem Widmer seit 45 Jahren treu ist – mit „Gesammelte Erzählungen“ die Erzählkunst dieses Tausendsassas. Ein schönes Geburtstagsgeschenk für den Autor, und für seine Leser. Auch wir gratulieren!

(16.5.2013)

Urs Widmer: Gesammelte Erzählungen. Diogenes, Zürich. 768 Seiten, 29.90 €.

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Zuhörerverachtung versus Publikumskopfschütteln

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Kein Bock auf Lesen vor Publikum scheint Helmut Krausser zu haben. Lustlos fläzt er sich auf den Stuhl, blättert in seinem Gedichtband, murmelt irgendwas vor sich hin. Zum Lesen im Stehen scheint die Energie nicht auszureichen.

„Ich lese lieber im Sitzen.“

Oder noch lieber – gar nicht?

Der nächste Gedichtband wird gut“, soll er mal gesagt haben, „aber Gedichte liest ja kein Mensch.“

Scheint er aber nicht gern zu hören, Zitate aus seiner Vergangenheit zur Begrüßung aus dem Munde der Moderatorin.

Tja, was soll ich dazu sagen.“ Das ist seine Begrüßung des Publikums, dem er dann ein Zorngedicht vorliest. Danach ist er wieder am Blättern.

Diese Gedichte kann ich euch nicht zumuten, aber welche aus der U-12-Abteilung. Kindergedichte.“

Davon liest er dann drei, vier, und noch ein Zorngedicht zum Abschluss, in dem das lyrische Ich einer Frau aus Eifersucht gern den Schädel spalten würde.

Eine Zuhörerin mit weißem Haar und grauer Strickjacke schüttelt zu jedem Vers dieses Gedichts den Kopf und hält auch dann noch die Arme vor der Brust verschränkt, als alle anderen Schlussapplaus spenden und Krausser sich auf der Bühne zweimal verbeugt vor seinem Publikum …

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