19. Juni 2015 · 12:01

In seinem Erzählband „Warte nur, es passiert schon was“ schildert Christos Ikonomou eindringlich, wie die Menschen in Griechenland von der Krise erschüttert werden.
In der Athener Nacht stehen fünf Rentner beisammen. Es ist Januar, weit nach Mitternacht, die Männer frieren. Jeden Einzelnen plagt ein körperliches Gebrechen, aber sie harren in der Kälte aus, warten darauf, dass die Renten- und Krankenversicherungsanstalt ihre Tore öffnet. Sie wollen als Erste da sein, damit sie am kommenden Morgen im Massenandrang nicht auf der Strecke bleiben. Sie kennen einander nicht, haben aber gemeinsam eine Eisentonne und eine Holzpalette von einer Baustelle zu ihrem Wartepunkt geschleppt, um ein Feuer zu entzünden, an dem sie sich wärmen können. Sie lassen eine Flasche Tsipouro herumgehen, erzählen einander trostlose Anekdoten, pöbeln sich gegenseitig an und sehnen sich nach den guten alten Zeiten: „Sie trugen eine Sehnsucht nach dem Vergangenen mit sich herum, die im Lauf der Zeit immer bitterer wurde, und statt sie mit Freude zu erfüllen, führte sie nur dazu, dass sie sich noch viel älter und hilfloser fühlten.“
Diese triste Geschichte von den fünf wartenden Rentnern findet sich in Christos Ikonomous Erzählband „Warte nur, es passiert schon was“. Das Buch ist 2010 in Griechenland erschienen, wurde 2011 mit dem griechischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet und liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Obwohl der 1970 in Athen geborene Autor, Journalist und Übersetzer seine Erzählungen bereits vor dem Ausbruch der großen griechischen Finanzkrise geschrieben hat, nehmen sie bereits viel von dem vorweg, was die Griechen in den vergangenen zwei, drei Jahren erleiden mussten: Armut, Not und Hoffnungslosigkeit.
Alle sechszehn im Band versammelten Erzählungen sind im heutigen Griechenland angesiedelt; und auch wenn es keine Reportagen sind, orientieren sie sich an der Realität und vermitteln ein Gefühl dafür, wie die Krise ganz konkret das Leben einzelner Menschen deformiert. Jene Arbeiter, Arbeitslose, Rentner und Heranwachsende, die deutsche Boulevardblätter nur noch unter dem respektlosen Begriff „Pleitegriechen“ zusammenfassen, bekommen bei ihm ein Gesicht, eine Geschichte und ein Schicksal.
Da ist unter anderem jener alleinstehende Vater, der seine Arbeit verloren hat. Nachts liegt er neben seinem Sohn im Bett und streicht ihm traurig über das hübsche blonde Haar. Beiden knurrt der Magen. Am frühen Morgen zieht der Vater los, mit dem Versprechen, für einen gedeckten Tisch zu sorgen. Aber der Mann hat weder Geld, noch Freunde, die ihm ein paar Scheine leihen würden. Den ganzen Tag hetzt er hilflos durch die Stadt. Die einzige Hoffnung ist seine erwachsene Tochter, die er abends treffen und um fünfzig Euro anpumpen will. Am Abend steht er jedoch immer noch alleine da. Ohne Geld. Bloß mit einer halb aufgegessenen Käsetasche in der Jacke und blutig gerissenen Händen.
Die sogenannten einfachen Leute sind die Protagonisten in Ikonomous Erzählungen. Arbeiter, die sich schäbig fühlen, weil sie ihre Jobs verloren haben, ihre Hypotheken nicht bedienen und ihre Familien nicht mehr versorgen können. Männer, die mit Schnaps oder Wein die Scham zu betäuben versuchen oder sich am liebsten selbst im Recyclingcontainer entsorgen würden. Oder es sind Frauen, die von ihren Männern im Stich gelassen werden, die um ihre Söhne und Töchter zittern und über den Fetzen ihrer Träume trauern. Alle Geschichten drehen sich um ein Gefühl des Ausgeliefertseins inmitten einer Welt, deren Spielregeln man nicht durchschaut und in der sich die Armut eingenistet hat: „Die miese, die niederträchtige Armut. Die ist nun auch ein Mitbewohner geworden. Ein Mitbewohner, eine Hausratte.“
Ikonomou schildert die Schicksale seiner Antihelden sehr plastisch sowie äußerst eindringlich in knappen Sätzen – und zwar meistens in einer kargen, dem Milieu entsprechenden Sprache, die eine melancholische bis düstere Atmosphäre verbreitet. Hie und da funkeln poetische Bilder wie Perlen inmitten einer Trümmerlandschaft auf und verströmen einen zittrigen, stets kurzlebigen Hauch von Hoffnung. Auch wenn an ein paar wenigen Stellen das Erzählverhalten unscharf oder der eine oder andere Vergleich bemüht wirkt, entfalten die Geschichten eine literarische Kraft, die sich im Laufe des Buches zu einem unentrinnbaren Sog steigert. Spannung schaffen zugleich die vielen Rückblenden, die Ikonomou in seine Geschichten einwebt. Hierdurch setzt er das dürftige Dasein der Gegenwart mit angenehmeren Tagen der Vergangenheit in Kontrast oder schildert die Wendepunkte im Leben seiner Protagonisten. Wendepunkte, nach denen es stets nur in eine Richtung geht: bergab.
Eines findet sich in den Erzählungen kaum: Zuversicht. Es herrscht eine totale Tristesse. Viele der Figuren scheinen gelähmt, warten ab, in der Hoffnung, dass etwas passiert. Und jene, die zu handeln versuchen, wirken wie Don Quijotes, die gegen unsichtbare Windmühlen anrennen.
Allein die letzte Erzählung stellt eine – jedoch nicht minder deprimierende Perspektive – in Aussicht. In einer kammerspielartigen Szene verbringt ein junges Paar die letzte Nacht in seiner Wohnung, die am nächsten Tag geräumt werden soll. Die beiden sind einem bereits zuvor in einer anderen Erzählung begegnet. Da drohte ihnen zwar bereits die Zwangsräumung, doch es herrschte noch verhaltener Optimismus: „Die Banken nehmen einem nicht einfach die Wohnung weg. Hier ist nicht Amerika. Irgendwie kriegen wir das hin.“
Nun hocken sie in dem leeren Haus, das bald einer Straße weichen soll. Und was erwartet die beiden? Bulgarien. Sie wollen auswandern, um im Ausland ihr Glück zu versuchen. „Schlimmer als hier“, sagt der Mann, „kann es nicht sein.“ Es gibt eine Hoffnung – doch die liegt fern der Heimat, im Exil.
Christos Ikonomou: Warte nur, es passiert schon was. Erzählungen aus dem heutigen Griechenland. A. d. Griech. übersetzt von Birgit Hildebrand. Verlag C. H. Beck, München. 256 Seiten, 19.95 €.
(April 2013)