9 monate
wiederentdeckte märzzeilen
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mitten in europa(ende märz 22)
wieder ein jahr
jetzt sogar
mit feier
nach zwei jahren
feierverbot
im lockdown
natürlich
im kleinen kreis
natürlich
aber was
gibt’s eigentlich
zu feiern
in der tagesschau
sterben menschen
jeden abend
nein
nicht
in der tagesschau
in echt
und ich weine
jeden abend aufs neue
für zwei minuten
manchmal
vielleicht drei
wegen der bilder
der bilder von …
_ _ _-
-
schmiere mir
eine käsetulle
krieg
mitten in europa
mitten in europa
hätte wer gesagt
vor zwei monaten
zwei minuten tränen
dann sportlottozahlenwetter
und ich beiße in die stulle
denke an fußball
mitten in europa
ein krieg
„Ich brauche keine mitfahrgelegenheit
ich brauche munition“
sagt der präsident
der ukraine
„ich will zurück
nach Bremen“
sagt ein freund
aus berlin
aus angst
vor russischen raketen
seit der krieg
ausgebrochen ist
scheint die sonne
jeden tag
nach drei monaten november
wieder ein jahr weniger
wir sitzen auf meinem balkon
essen kuchen trinken milchkaffee
tauschen urlaubspläne aus
rügen schweden südfrankreich
mitten in europa
syrien jemen afghanistan
irgendwo auf der welt
spielt eine mannschaft
um den aufstieg
irgendjemand where is my mind
von den pixies in meinem kopf
(wie platt ist das denn?!)
die platte springt
aber die sonne scheint
abends nicht mehr
wenn die tagesschau läuft
im dunkeln
weint es sich besser
und das abendbrot schmeckt
ein bisschen
salziger
aber immer noch
gut
mitten
in
europa
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Am Donnerstagabend kommt Clemens Meyer im Rahmen der Lesereihe Satzwende nach Bremen. Ich darf die Lesung in der Bremer Shakespeare Company moderieren und habe sein aktuelles Buch „Stäube“ fürs Literaturmagazin Bremen besprochen. Den vollständigen Lesetipp findet ihr dort und nun auch hier.
Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer ist dafür bekannt, Geschichten vom Rande der Gesellschaft zu erzählen. Ob Arbeitslose, Prostituierte oder Kleinkriminelle, gerne rückt Meyer Menschen ins Rampenlicht, die sonst oft im Schatten verborgen bleiben. Meisterhaft gelang ihm dies vor allem in seinem Roman Im Stein, der 2014 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde, aber auch in seinem Debüt Als wir träumten und in zwei Erzählungsbänden. Zuletzt ist im vergangenen Herbst unter dem Titel Stäube ein schmales Buch mit drei Erzählungen erschienen, in denen der 44-Jährige erneut die Randzonen unserer Gesellschaft erkundet.
Die drei kurzen Erzählungen sind alle in der Bergbauregion Ostdeutschlands angesiedelt, ohne dass Orte tatsächlich benannt werden. In der ersten Geschichte kehrt ein Sohn heim in die vom Tagebau zerstörte Landschaft, um seine Mutter zu überzeugen, endlich fortziehen. Doch obwohl fast alle anderen weg und die Nachbardörfer der Braunkohle gewichen sind, will sie bleiben.
In der zweiten Erzählung tauchen wir mit einem Bergmann in seine Erinnerungen und die Tiefen und Mythen des Untertagebaus ein, während in der dritten eine Teenagerin davon erzählt, wie sie in einem ausländerfeindlichen Umfeld für einen jugoslawischen Jungen schwärmt und amerikanische Touristen für Geld zu einem explodierten Haus führt. In diesem Haus hätten zwei Männer und eine Frau gewohnt, die „Waffen hatten und mit den Waffen durchs Land reisten, in andere Städte reisten, weit weg, und den Tod dorthin brachten“. Dass es hier um die rechtsextreme Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) geht, scheint offensichtlich, dennoch verzichtet Meyer auf konkrete Benennungen. Dieser Verzicht passt zu Meyers Methode, in seinen Geschichten stellenweise die Grenzen zwischen Realität, Fiktion und Traum geschickt zu verwischen. Immer wieder verwebt sich die eigentliche Handlung mit Erinnerungs- und Traumbildern, was den Storys etwas Zeitloses sowie eine zarte, zuweilen gar mystische Note verleiht.
„Der Koch kann gehen“, sagt die ältere Dame vom Nebentisch in der Strandmuschel zum Kellner, der mir just meinen Cappuccino zusammen mit einem kolossalen Stück Apfelkuchen serviert hat.
„Wieso?“
„Die Nudeln müssen al dente sein! Diese hier waren furchtbar klebrig.“
Sei´s drum, sie hätte nun gern eine Mousse au Chocolat. Es tue ihm leid, das hätten sie leider nicht da, sagt der junge Mann und zählt auf, was er ihr stattdessen bringen könne; und während er die Namen allerlei Desserts nennt, nippe ich an meinem Cappuccino und schaue aus dem Restaurant über die Dünen und den Strand von Sylt hinaus aufs Meer, in dem die Sonne gemächlich versinkt.
_ _ Das Leben in Gewitterwolken _ _ Warten auf Entspannung zwischen Zuckerwatte und Eiskristallen _ ein süßes Paradies, so fluffig und zart, legt sich wie Löschpapier auf meine Festplatte _ dazu täglich einen Milchkaffee mit Opium zum Einschlafen _ so kann ich hier träumen mit offenen Augen _ im Hintergrund das Flüstern der Glückskekse („Sisyphos war ein Bergarbeiter ohne Rentenversicherung …“) höre ich nicht _ nur das kandierte Pink in meinen Ohren knistert leicht _ und hin und wieder zuckt ein Blitz vor den Gläsern meiner 3D-Brille _ _ _
Wieder Winter. Täglich Winter. Wiederholung in Grau. Mit Glück gibt’s eine Prise Puderzucker oben drauf oder einen Schuss Sonne. Das macht’s bekömmlicher. Also warten auf die Wintersonne, warten auf das leuchtende Weiß. Auf das Knirschen der Schritte im Schnee. Auf Kugelgestalten im Park. Auf rodelnde Kinder am Deich. Auf die Verwandlung der Welt. Zumindest für ein paar Stunden, vielleicht sogar Tage. Bis dahin gibt’s Grau in Grau. Alltag ohne Farbe. Täglich wieder. Täglich Winter. Wiederholung in Grau …
_ jetzt tanzen wir wieder in masken täglich von neuem _ jetzt geben wir uns wieder küsse mit abstand _ handküsse von frisch desinfizierten tellern _ jetzt umarmen wir uns wieder mit faust auf faust _ jetzt bleiben wir wieder fern unseren eigenen feiern vom vorvergangenen jahr _ jetzt vermessen wir wieder die distanz zu unseren eltern mit dem zollstock _ und fegen unseren atem mit winterluft fort _ _ _ aber manche tanzen und tanzen und tanzen quer _ tanzen auf pappmaché-barrikaden mit fackeln in den fäusten _ ohne abstand oder masken, aber mit hüten aus alu und gestohlenen sternen auf der brust _ johlen und toben sich ins recht im schatten der reichsflaggen _ tanzen und tanzen und tanzen quer _ _ _ und all diesen möchtergern-tänzern schenke ich von herzen mit abstand meinen mittelfinger _ meinen frisch desinfizierten linken mittelfinger _ _ _ und wir tanzen und tanzen und tanzen _ _ _
Gerade einen knappen Monat haben wir die Wohnung unterm Dach in der Wulfhoopstraße, meine Freundin und ich, als morgens das Telefon klingelt. Ein Freund, der ein paar Straßen weiter wohnt, ist am Apparat – der wirklich noch ein Apparat ist (mit Kabel und so), fragt, ob wir das schon mitgekriegt hätten. Was denn?, frage ich. In New York, sagt er, in New York sei ein Flugzeug ins World Trade Center geflogen. Habe er eben im Radio gehört. Ob er vorbeikommen könne, um die Nachrichten im Fernsehen zu schauen.
Ja, sage ich, klar, soll er machen, bis gleich. Im Gegensatz zu ihm haben wir einen Fernseher, wenn auch nur eine kleine alte Kiste ohne Fernbedienung, die meistens unbenutzt in der Ecke steht. Ich schalte den Fernsehapparat an. Meine Freundin steht neben mir, fragt, was los sei, doch da flimmern schon die rauchenden Türme über den Bildschirm.
Zu dritt sitzen wir schließlich einige Minuten später auf dem Sofa, sehen immer wieder das Flugzeug, den Rauch, die aus dem Turm springenden Menschen, die einstürzenden Zwillingstürme und die vor dem Rauch und den Trümmern durch die Straßen New Yorks Davonstürmenden.
Seit Januar geben dasBremer Literaturkontorund das virtuelle Literaturhaus Bremen gemeinsam das Literaturmagazin Bremen heraus. Seitdem gab es Ausgaben zu den Themen Freundschaft, Menschenrechte, Wasser, Poesie, Expeditionen und Krimi. Ich bin zwar Teil der Redaktion, die gemeinsam die Themen und Ausgaben plant, war aber bisher leider nicht dazu gekommen, eigene Beiträge beizusteuern. Doch für die aktuelle Ausgabe zum Thema Klima habe ich nun eine Rezension beigesteuert, und zwar zu Andreas Malms Sachbuch „Wie man eine Pipeline in die Luft jagt“, die ab heute im Magazin und hier auf meinem Blog zu lesen ist. Ein Blick ins Magazin lohnt auf jeden Fall, dort kann man auch noch alle Beiträge der vergangenen Ausgaben nachlesen, -hören und -schauen.Also, einfach mal stöbern. Und hier die Buchbesprechung
Gewalt ist keine Lösung, heißt es. Eine Binsenweisheit, der man gerne nickend beipflichtet. Aber stimmt diese Aussage wirklich in jedem Fall oder kann Gewalt manchmal doch dabei helfen, Probleme zu lösen? Diese Frage erörtert der schwedische Humanökologe Andreas Malm in seinem Sachbuch „Wie man eine Pipeline in die Luft jagt“. Anders als der knallige Titel suggeriert, liefert Malm keine Anleitung für explosive Aktionen, allerdings durchaus Denkanstöße für den militanten Widerstand gegen die Verursacher der Klimakatastrophe.
Es ist Urlaubszeit und ich hocke im verregneten Bremen. Was tun? Zum Beispiel in vergilbten Notizbüchern herumblättern und Urlaubserinnerungen wie diese hervorkramen:
Brighton. Mein erstes Mal im größten und bekanntesten südenglischen Seebad. Vor einer halben Stunde habe ich in dem leicht schäbigen Hostel eingecheckt, das mir der Typ in der Touristeninfo wärmstens empfohlen hatte, und mir anschließend an der Ecke meine ersten Fish & Chips gekauft. Nun sitze ich am Strand auf Kieselsteinen, mein überteuertes frittiertes Willkommensmenü in den Händen haltend, und schaue auf den Ärmelkanal, während die Sonne über der dichten Wolkendecke scheint und die Möwen kreischen.
Also alles bestens, ich bin im Urlaub und glücklich darüber, im Urlaub zu sein … und glückliche Urlauber gelten anscheinend als leichte Beute, denn noch bevor ich ein erstes Mal von meinem Fisch abbeißen kann, kommt von hinten eine Möwe angeschossen und schnappt sich ein fettes Stück mein Fischs, das ihr allerdings sofort wieder entgleitet und neben meinem linken Knie in den Kies plumpst (bad luck for both of us). Nun trippelt die Möwe mit Sicherheitsabstand auf und ab, offenbar unschlüssig, ob sie es wagen soll oder ob ihr Ärger mit mir drohen könnte, obwohl ich ihr so aufmunternd zulächle.
Heute wird er 80, Bob Dylan – Singer-Songwriter, Literaturnobelpreisträger, Ikone, Mythos und vieles mehr. Einmal durfte ich ihn live erleben: Am 14. Juni 1998 in der Stadthalle Bremen. Das ist lange her, aber Bob Dylan spielt immer noch auf seiner „Never Ending Tour“. Und wie sich so ein Konzerterlebnis anfühlen kann für einen jungen Fan, beschreibe ich in der folgenden Miniatur.*
Gerade hat er sein linkes Bein bewegt. Das fiel sofort auf im gleißenden Licht. Dort steht er ganz allein, dort oben im Spotlight auf der Bühne in der Stadthalle. Er allein mit seiner Gitarre und seiner Mundharmonika, so wie man ihn kennt von den Plattencovern und Postern, steht er da in echt und spielt die Lieder, die längst Klassiker sind. Und die Steine rollen und der Wind weht und ein schwerer Regen fällt, doch er steht einfach nur da, spielt auf seiner Gitarre und singt.
So wie vor ein paar Wochen Joe Cocker auf der gleichen Bühne stand und sang und doch alles anders war. Cocker fuchtelte mit seinen Armen herum, begleitet von einer Band, Backgroundsängerinnen, Lichtshow, Videoprojektionen und dem ganzen Tralla. Nicht so Dylan. Der braucht keine Hilfe von irgendwem. Der kriegt’s allein hin. Cocker ist halt nicht Dylan. Niemand ist wie Dylan, manchmal nicht einmal Dylan.