Es war einmal in Bremen ein Mann, der hatte keine Arbeit und nicht viel Geld, aber einen Traum: Er träumte davon, eines Tages bei der jährlichen Bürgerparktombola ein Auto zu gewinnen. Zwar besaß er keinen Führerschein mehr, dennoch sehnte er sich danach, mit einem eigenen Wagen zur Nordsee zu fahren, um aufs Meer hinauszuschauen und die großen Schiffe mit der Autohupe zu grüßen.
Da der Mann es sich nicht leisten konnte, täglich aus eigener Tasche die Lose zu bezahlen, ging er während der Tombola-Wochen jeden Abend zum Bremer Bahnhofsplatz und wühlte in den Mülleimern nach Pfandflaschen. Das Pfand löste er im Supermarkt ein, um sich am nächsten Tag an den kleinen Buden vor dem Bahnhof zwei oder drei Lose zu kaufen – je nachdem wie viel Geld er durch die Flaschen zusammenbekommen hatte.
In all den Jahren hatte er hin und wieder verschiedene Preise gewonnen: mehrmals rosafarbene Papierservietten oder Frühstücksflocken einer Bremer Firma, auch Schokolade, Lakritze oder Kinogutscheine hatte ihm das Losglück beschert, und einmal sogar eine Eintrittskarte für ein Spiel im Weserstadion.
Obwohl ihm die Frühstücksflocken und die Lakritze geschmeckt und der Kinofilm und das Fußballspiel gut gefallen hatten, war er mit seinen Preisen nicht glücklich, denn er wollte das Auto gewinnen und nicht Servietten oder Kinogutscheine.
„Nie habe ich Glück“, dachte er, gab trotzdem nicht auf, sondern versuchte es jedes Jahr von Neuem. Und so ergab es sich, dass er eines Tages wieder zu einer Losbude auf dem Bahnhofsplatz ging, um sich vom Erlös der eingesammelten Pfandflaschen zwei Lose zu kaufen. Das erste Los war eine Niete, auf dem zweiten jedoch stand eine Gewinnnummer. Der Mann hastete zur Gewinnausgabe vor der Bahnhofshalle und schob der Frau hinter dem Tresen das Los zu.
„Ich habe gewonnen!“, sagte er – und seine Stimme zitterte dabei ganz leicht vor Aufregung, denn obschon er so oft mit Lakritz oder Frühstücksflocken abgespeist worden war, hoffte er immer noch bei jedem Gewinnlos auf den Hauptpreis, das Auto.
Die Frau, die hinter dem Tresen der Gewinnausgabe saß, nickte, nahm ohne aufzuschauen das Los entgegen, blätterte in einem großen grünen Aktenordner, verglich die Losnummer mit den Zahlen auf einer Liste und wollte bereits in das Regal mit den Servietten greifen, als sie in ihrer Bewegung stockte.
Nach einer kurzen Starre ließ sie ihren Blick nochmals zwischen Los und Liste hin- und herwandern, dann hob sie langsam ihren Kopf. Erst jetzt schien sie den Mann wahrzunehmen, der da vor ihrem Tresen stand und sie erwartungsvoll anstarrte. Sie musterte ihn ein paar Sekunden stumm und ausdruckslos, verglich ein letztes Mal die Losnummer mit der Zahlenreihe in ihrem Ordner, nickte kurz, griff sich einen Stift und setzte hinter der Nummer ganz oben auf ihrer Liste ein kleines rotes Häkchen.
Mit einem veränderten Gesicht blickte sie schließlich auf, schenkte dem Mann ein weißes Lächeln, drückte ihren Brustkorb nach vorn, räusperte sich und sagte mit einer wohlklingenden Stimme:
„Herzlichen Glückwunsch! Sie haben den Hauptpreis gewonnen! Von heute an sind Sie der Besitzer eines nagelneuen BMW im Wert von 55.000 Euro, den das Autohaus Rusch für die Bürgerparktombola gesponsert hat! Ich gratuliere Ihnen herzlich im Namen des Bürgerparkdirektors und im Namen des Autohauses Rusch! Herzlichen Glückwunsch!“
Der Mann konnte sein Glück kaum fassen und stand für einen Augenblick mit offenem Munde starr da – doch plötzlich riss er die Arme in die Höhe, hüpfte vor Freude auf und ab und rief unaufhörlich „Gewonnen! Gewonnen! Ich habe gewonnen!“
Viele der Menschen, die kurz zuvor noch hastig über den Bahnhofsplatz geeilt waren, hielten nun inne, um den Mann zu beobachten, der da auf- und abhüpfte, fremde Menschen umarmte und schließlich die Frau hinter ihrem Tresen hervorzog, um mit ihr ein Freudentänzchen aufzuführen.
Das alles dauerte vielleicht drei oder vier Minuten, dann hasteten die Menschen weiter, stand der Mann in sich versunken alleine da und saß die Frau wieder auf ihrem Stuhl hinter dem Tresen und blätterte in ihrem Ordner. Der Mann spürte zwar noch das Glück, das ihn durchströmte, hatte sich inzwischen jedoch ein wenig beruhigt und war gar ein bisschen traurig darüber, dass er das gewonnene Auto nicht sofort mitnehmen durfte, sondern bis zum nächsten Tag warten musste.
Am folgenden Morgen duschte sich der Mann, rasierte sein Gesicht glatt und verpackte seinen blassen dürren Oberkörper in einem frisch gebügelten Hemd, das er zuletzt vor vielen Jahren auf seiner Hochzeit getragen hatte. Er scheitelte sein Haar mit einem kleinen Kamm und ging zur vereinbarten Zeit zum Bahnhofsplatz.
Dort erwarteten ihn bereits der Direktor der Bürgerparktombola, ein Journalist der größten Lokalzeitung mit einem Fotografen an seiner Seite und der Chef des Autohauses Rusch, das den Wagen für die Tombola spendiert hatte.
Der Direktor hieß den Mann willkommen, schüttelte ihm die Hand und gratulierte im Namen des Bürgerparkvereins; auch der Autohauschef schüttelte ihm ausgiebig die Hand und gratulierte im Namen des Autohauses Rusch; der Fotograf hingegen knipste Fotos und der Journalist fragte den Mann, wie er sich fühle.
„Großartig“, sagte der Mann, „noch nie zuvor habe ich etwas Bedeutendes in meinem Leben gewonnen. Und nun das! Ich fühle mich großartig!“
Ein Grinsen belebte sein sonst oft müde dreinblickendes Gesicht; und neben ihm da grinsten der Direktor und der Chef des Autohauses Rusch, während der Kugelschreiber des Journalisten über die Blätter seines Notizbuches kratzte und die Kamera des Fotografen klickte und klickte und klickte …
Doch irgendwann war es endlich soweit: Der Autohauschef überreichte die Autoschlüssel und der Mann durfte sich hinter das Steuer des BMW setzen, der jetzt ihm gehörte. Er freute sich darauf, mit seinem eigenen Auto ans Meer zu fahren. Er schloss die Fahrertür von innen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss, löste die Handbremse, winkte den vier Männern zu und trat sanft aufs Gaspedal. Ganz langsam rollte er mit seinem BMW über den Bahnhofsplatz an den Abfalleimern vorbei zur Straße und sah, wie die vier winkenden Männer im Rückspiegel immer kleiner wurden.
Obwohl er sich so sehr auf die Nordsee gefreut und vorgenommen hatte, direkt dorthin zu fahren, kurvte er zuerst durch die Viertel der Stadt. Er genoss das Gefühl, in seinem neuen Gefährt all jene Orte zu passieren, an denen er auf Menschen treffen könnte, die ihn kannten. Und tatsächlich fuhr er immer wieder hupend und winkend an Bekannten und Freunden vorüber, die ihm staunend nachblickten und in seinem Rückspiegel zu winzigen Männchen schrumpften. Hier und da hielt er auch an, kurbelte das Fenster runter und ließ seine Freunde den BMW bewundern. Aber nicht ein einziges Mal stieg er aus oder ließ einen seiner Freunde einsteigen – stets hielt er nur kurz an und sagte nach wenigen Minuten, dass er nun weiter müsse, da er am Meer erwartet werde.
Abends war er allerdings immer noch in der Stadt unterwegs, und als er auf der Hochstraße am Bahnhof vorbeikam, drosselte er die Geschwindigkeit seines Wagens, rollte im Schritttempo über den Asphalt und schaute aus dem Fenster hinunter zum Bahnhofsplatz, auf dem er all die Jahre Mülleimer durchwühlt hatte. Noch vor zwei Tagen war er um diese Zeit auf der Suche nach seinem Glück von Abfalleimer zu Abfalleimer gegangen.
Er blickte auf die Losbuden und auf die leere Rampe, auf der heute Morgen noch der BMW gestanden hatte, der nun ihm gehörte. Während ein paar Autos hupend an ihm vorüberzischten, stoppte er seinen BMW, streichelte das Lenkrad und lachte vor Glück.
Genau in diesem Augenblick gab es einen lauten Knall, ein Ruck ging durch das Auto und schleuderte den Mann so kräftig nach vorn, dass er mit seinem Kopf gegen das Lenkrad stieß und dann zurück in den Ledersitz gedrückt wurde. Der Mann brauchte eine Weile, um zu begreifen, was passiert war. Zuerst bemerkte er die kleinen roten Tropfen, die aus seiner Nase auf sein weißes Hemd plumpsten und sich dort zu einem großen Fleck vereinigten; dann erkannte er im Rückspiegel direkt hinter seinem BMW einen Mercedes, und plötzlich stand ein älterer Herr neben seiner Tür und klopfte gegen die Scheibe.
Der Mann starrte den klopfenden Herren eine Weile stumm an, sah, wie dessen Mund hinter dem Glas des Autofensters auf- und zuging, öffnete schließlich die Tür von innen und stieg aus. Draußen erwartete ihn der andere mit wütendem Geschrei und durch die Luft wirbelnden Händen.
Der Mann beachtete das Schimpfen und Fuchteln nicht, sondern sah allein seinen BMW, in dessen Heck sich ein Mercedes gerammt hatte. Hinter- und Vorderteil der beiden Wagen schienen sich zu einem einzigen Schrotthaufen vereinigt zu haben.
Während der Mercedes-Fahrer fluchte und fuchtelte, schaute der Mann auf sein neues Auto und dachte an den Führerschein sowie die Versicherung, die er beide nicht hatte – und er dachte an das Glück, das ihm nie treu war. Tränen stiegen ihm in die Augen.
Er schluchzte, versuchte die Tränen zurückzuhalten, spürte jedoch, wie sie nach und nach über seine Wangen kullerten und gemeinsam mit dem Blut auf sein Hemd tropften. Plötzlich spürte er, wie die Hände des Mercedes-Fahrers nach ihm griffen und ihn zu schütteln begannen. Nur kurz gab er sich diesem Schütteln hin, dann stieß er den anderen heftig zur Seite, machte zwei energische Schritte, kletterte auf die Leitplanke am Fahrbahnrand, schaute ein letztes Mal zum Bahnhofsplatz hinunter und sprang von der Hochstraße in die Tiefe.
Anstatt sich auf dem Asphalt alle Knochen zu brechen oder von einem Auto überrollt zu werden, landete der Mann auf der offenen Ladefläche eines Lastwagens in einem großen Haufen Fischernetze und verlor nicht sein Leben, sondern bloß sein Bewusstsein.
Als ihn der Fahrer des Lastwagens zwei Stunden später entdeckte und ansprach, erwachte der Mann, erblickte den Fahrer und fragte, ob er im Himmel sei.
Der Lkw-Fahrer schüttelte den Kopf und antwortete ihm, dass er keineswegs im Himmel, sondern, wenn überhaupt, dann schon eher in der Hölle, nämlich in Bremerhaven sei.
Der Mann sah den Fahrer mit großen Augen an, richtete sich auf, blickte sich um und sah … das Meer. Sie hatten direkt am Wasser gehalten und in der Ferne erkannte der Mann ein Schiff. Da musste er mit einem Mal laut lachen – und zwar so laut und heftig, dass der andere von ihm glaubte, er sei wahnsinnig geworden.
Nach wenigen Minuten jedoch hatte der Mann sich wieder beruhigt und fragte den Fahrer, ob er einmal die Hupe seines Lastwagens drücken dürfe. Der Fahrer wunderte sich über diesen Wunsch, war aber froh, dass der Mann mit dem Lachen aufgehört hatte und dass es ihm im Großen und Ganzen einigermaßen gut zu gehen schien. Also half er ihm von der Ladefläche und ließ ihn ins Fahrerhaus einsteigen. Dort setzte der Mann sich hinter das Lenkrad, drückte die Hupe und sah dem Tanker nach …
Diese Fassung ist eine überarbeitete Version des Textes, der 2011 in der Zeitschrift der Straße erschienen ist.