Jenny Erpenbeck schreibt über Flüchtlingsschicksale in Berlin
Aktueller geht es kaum. In ihrem neuen Roman „Gehen, ging, gegangen“ setzt sich Jenny Erpenbeck mit genau dem Thema auseinander, das seit Wochen die öffentlichen Debatten beherrscht – der Flüchtlingsfrage. Ausgangspunkt ihres Romans ist das Protestcamp, mit denen Geflüchtete zwischen 2012 und 2014 auf dem Berliner Oranienplatz gegen das Asylverfahrensgesetz demonstrierten. Die 1967 in Berlin geborene Autorin hat mit einigen von ihnen Gespräche geführt, recherchiert und alles zu einer Art Tatsachenroman verarbeitet.
Sie schildert die schwer erträgliche Situation des Wartens und der Ungewissheit, der sich die jungen afrikanischen Männer im Angesicht der jederzeit möglichen Abschiebung ausgesetzt sehen, während die Bilder von ermordeten Familienmitgliedern, in der Wüste oder auf dem Schiffsdeck verdursteten Begleitern und im Mittelmeer ertrunken Mitflüchtlingen weiter in ihren Köpfen wüten. Neben ihren Flucht- und Vertreibungsgeschichten erzählen manche der in Berlin Gestrandeten in Erpenbecks Roman auch von jener Zeit, als ihr Leben noch nicht von Krieg, Vertreibung und anderen Formen der Gewalt geprägt war, sondern von Familie, Beruf und Freunden. So schildert zum Beispiel einer der Männer seinen Alltag mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, mit denen er in Libyen lebte, wo er einen eigenen Betrieb besaß, in dem er Rolltore fertigte – bis plötzlich Gaddafis Truppen in sein Leben marschierten, ihn und seine Kinder mit anderen in ein Boot pferchten und Richtung Europa schickten; dort strandete er schließlich an der Küste Italiens, ohne seine Frau, die in ihrer Heimat zurückgeblieben war, und ohne seine Kinder, die im Meer ertrunken waren.
Zusammenlaufen lässt Erpenbeck die einzelnen Geschichten und Handlungsfäden bei der Hauptfigur des Romans, bei Richard, einem Altphilologen, der just in den Ruhestand entlassen wurde und seine neu gewonnene Zeit den Flüchtlingen widmet. Zuerst begibt er sich bloß aus Neugier heraus auf den Oranienplatz, doch je mehr er die einzelnen Menschen kennenlernt, desto mehr versucht er sie zu unterstützen: Er erteilt Deutsch- und Klavierunterricht, fährt sie in die Sprachschule, begleitet sie zum Anwalt, schenkt ihnen ausgemusterte Kleidungsstücke, organisiert Spenden und versucht alles in allem der kühlen Nüchternheit der Gesetzgebung etwas entgegenzusetzen; dabei sieht er sich zuweilen aber auch mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontiert.
„Gehen, ging, gegangen“ ist ein gesellschaftspolitischer Unterhaltungsroman, der in jenen Passagen überzeugt, in denen Erpenbeck fast schon dokumentarisch den Fokus auf das Schicksal der Flüchtlinge richtet, sie ihre Geschichten erzählen lässt und ihre hoffnungslos anmutende Situation im Wartemodus schildert. Zugleich gibt es darüber hinaus allerdings auch allerlei Szenen, die arg gewollt oder leicht moralinsauer wirken in ihrer plumpen Art, das Leben eines bisher politisch recht unbedarften, sich jedoch redlich bemühenden Bildungsbürgers dem der Asylsuchenden gegenüberzustellen. Zudem hätten mehr Perspektivwechsel beim Erzählen den Roman enorm bereichern können – so dominiert abermals der Blick eines gebildeten saturierten Mitteleuropäers auf die „hilfebedürftigen Flüchtlinge“ das Geschehen, und das ist dann doch bedauerlich. Somit ist der dritte Roman der Hans-Fallada-Preisträgerin des Jahres 2014 ein zwar lesenswertes, aber keinesfalls komplett gelungenes Buch zur Flüchtlingsthematik. Dennoch wäre es wohl keine Überraschung, wenn das Werk im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse den Deutschen Buchpreis erhalten sollte, denn wie gesagt – aktueller geht´s kaum.
Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Knaus, München. 352 Seiten, 19,99 €. (August 2015)