Sprechblasen-Ego-Show

Im Theater Bremen inszeniert Felix Rothenhäusler im Kleinen Haus „Ödipus“ und „Antigone“ frei nach Sophokles kompakt in einer rasanten Familienaufstellung, in der das Personal einfach nicht die Klappe halten kann.

Auf der Bühne ein kitschig rosafarbener Traum von einem Schlafzimmer. Der Blick geht durch zwei Panoramafenster hinaus auf die Ägäis. Im Zentrum des Zimmers steht ein prächtiges Bett. Darauf haben Platz genommen: Die Königin Iokaste (Verena Reichhardt) im mintfarbenen Kleid und ihre Töchter Ismene (Annemaaike Bakker) – im schwarzen Geschäftsfrau-Dress – und Antigone (Mirjam Rast) im pinkfarbenen Girlie-Look mit Glitzer auf den Wimpern. Die drei sind nicht allein, auch Iokastes Bruder Kreon (Robin Sondermann im blauen Kapuzenpulli mit großem Euro-Logo darauf) und ihr Mann Ödipus (Johannes Kühn mit aufgetürmten Haaren, Stirnband, Multifunktionsweste und Shorts) sind im Raum, stehen mit dem Rücken zu den Fenstern. Das dürfte kein Zufall sein, denn zuerst einmal geht es nicht um die Welt dort draußen, sondern um die Familie im Raum. Entsprechend hat der Regisseur Felix Rothenhäusler in seiner Doppelinszenierung von Sophokles’ berühmten Dramen „Ödipus“ und „Antigone“ sein Personal wie in einer Familienaufstellung angeordnet; und er lässt es die kompletten 70 Minuten exakt in dieser Position verharren wie in einem starren Bild.

Europa als therapiebedürftige Familie

Das Schlafzimmer als Keimzelle der Familie ist als Schauplatz ideal gewählt, nicht zuletzt da das Bett auch der Ausgangspunkt für all jene Tragödien ist, die an diesem Abend verhandelt werden. Hier haben einst Iokaste und ihr verstorbener Mann Laios einen Sohn gezeugt, dem prophezeit wurde, dass er seinen Vater töten und mit seiner Mutter schlafen werde. Um diesem Schicksal zu entkommen, durchstach das Paar dem Säugling die Fersen, band sie zusammen und übergab das Kleinkind einem Hirten, damit er es im Gebirge aussetze. Doch den Hirten packte das Mitleid und so landete der Knabe letztlich bei einem kinderlosen Königspaar in Korinth. Dort wuchs jener Junge heran, den man seiner verwundeten Füße wegen Ödipus (Schwellfuß) nannte. Ein weiterer unheilvoller Orakelspruch trieb Ödipus schließlich aus dem Haus seiner Pflegeeltern gen Theben. Auf den Weg dorthin erschlug er in einem Streit auf der Straße den König Laios. Dass dieser sein leiblicher Vater war, davon wusste Ödipus nichts. So begab er sich nach Theben, befreite die Stadt von der grausamen Sphinx und durfte als Lohn den Thron und das Bett der frisch verwitweten Königin Iokaste besteigen – also das Bett seiner Mutter. Ahnungslos hatte Ödipus die Orakelsprüche erfüllt und zeugte im Laufe der Jahre mit seiner eigenen Mutter vier Kinder.

Eine Familie mit derart finsterer Vergangenheit bedarf unbedingt einer Therapie. Glücklicherweise ist der Therapeut, der Seher Theresias (Siegfried Maschek), nicht weit und beginnt sogleich die Sitzung. Eigentlich soll es dabei um Haimon (Bastian Hagen) gehen, dem wehleidigen Sohn Kreons, der vor dem Bett im Schneidersitz dahockt und rumjammert. Rasch rücken jedoch die Abgründe der Familie in den Fokus, die bisher ignoriert worden waren, nun allerdings allmählich ausgeleuchtet werden. Vor allem von Ödipus, der Fragen zu stellen beginnt. Sehr zum Unwillen von Iokaste, die von all der Fragerei Migräne bekommt. Aber Ödipus kann nicht aufhören zu bohren, so wie alle anderen nicht aufhören können zu reden. Permanent wird geredet, und zwar in einer Sprache, die gelungen zwischen dem Duktus von Hölderlins Übersetzung und moderner Umgangssprache changiert (Textfassung Jan Eichberg) – unterstützt wird der sich daraus ergebende Sprechrhythmus von Matthias Kriegs pointiert eintönigen Gitarrenklängen.

Kalauer, Provokationsposen und eine hochkomische Dynamik

In diesem ganzen Geplapper kreist jeder in erster Linie um sich selbst. Alle stecken in ihren Ego-Blasen. Zu echten Gefühlen gegenüber den anderen scheint niemand fähig. Liebesbekundungen oder Worte der Bewunderung werden emotionslos runterspult. Sie klingen dadurch genauso hohl wie die etlichen anspielungsreichen politischen Parolen, die Ödipus und Kreon von sich geben. Alles in allem ist es ein Befindlichkeitsgelaber ohne gleichen, permanent ploppen die Sprechblasen auf; und wie in sozialen Netzwerken steht alles gleichberechtigt nebeneinander – hochrelevante gesellschaftspolitische Probleme neben banalem Eitelkeitsgetue. Auf der Bühne entwickelt diese leidenschaftslos dargebotene Ego-Show eine teils hochkomische Dynamik. Kalauer, esoterische Phrasen und staatsmännische Losungen werden stupide rauf- und runtergerattert. Auch Antigones Widerstandsakt gegen die willkürlichen Verbote ihres Onkels Kreon wirkt wie eine Pose, wie Provokation um der Provokation willen – selbst wenn Antigone zwischendurch nicht mehr wie das kleine Dumpfbacken-Girlie klingt, sondern mehr wie Ulrike Meinhof. Kein Gefühl scheint hier authentisch. Jede Aussage, die diese Figuren von sich geben, wirkt abgedroschen und stumpf.

Letztlich könnte diese kaputte Familie die europäische Familie symbolisieren, die sich in ihrer rosaroten Welt um sich selbst dreht. Dabei werden am laufenden Band Phrasen gedroschen – von Menschlichkeit, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand, während man vor der eigenen Tür im Mittelmeer elendig jene Menschen ersaufen lässt, die sich all das Propagierte tatsächlich von Europa erhoffen. Doch das pinkfarbene Schlafzimmer ist eine Festung, in der man für sich bleiben und reden will – unaufhörlich über sich selbst reden, reden und immer wieder reden. Für diese intelligent inszenierte Sprechblasen-Ego-Show gab es natürlich dennoch (verdientermaßen) jede Menge Applaus vom Premierenpublikum im Bremer Theater.

6 Kommentare

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6 Antworten zu “Sprechblasen-Ego-Show

  1. „Familienaufstellung“ der europäischen Verwandtschaft – reizvoll betrachtet und gedeutet. In den antiken Dramen mag ich gerne den Chor. Welchen Raum oder welche Gestalt bekommt er? [etwa: Antigone; Reclam; Zeilen 332 ff.] Dank und Gruß

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    • Gute Frage: Einen klassischen Chor gibt es nicht, jedoch übernehmen die Familienmitglieder bzw. der Therapeut/Seher Parts, die sonst der Chor spricht. Sätze wie „Ungeheuer ist viel und nichts / Ungeheurer als der Mensch“ (Reclam, 332 ff.) sind so durchaus geschickt integriert, auch wenn sie dadurch deutlich beiläufiger daherkommen. Allerdings fällt bei einer 70-minütigen Doppel-Inszenierung der beiden Dramen auch die eine oder andere Zeile unter den Tisch. Liebhaber texttreuer Inszenierungen dürften daher vermutlich des Öfteren mit der Nase rümpfen.

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  2. Cora Koltes

    Klingt anstrengend – 70 Min ein Bühnenbild und ein Haufen Quasselstrippen auf Ego-Trip.
    Klingt auch nach einer frischen, zeitgemäßen Umsetzung der alten Gruseldramen. Lohnt sich bestimmt.

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    • Anstrengend? In seiner Verweigerung von Bewegung und Handlung auf der Bühne durchaus eine Zumutung – ja! Aber eine sehr gelungene Zumutung. Daher vor allem frisch, zeitgemäß und teilweise auch sehr komisch – also überhaupt nicht anstrengend:-)

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  3. Cora Koltes

    Ok. Also dann mal los und rein ins Theatervergnügen ☺

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  4. Cora Koltes

    Wirklich sehr gelungen – ich habe die Bewegungslosigkeit der Schauspieler kaum bemerkt. Die rasante Sprache hat mich in ihrem Bann gehalten.
    Es war lustig und ernst und kurzweilig!
    Ein guter Tipp – es war ein richtig schönes Theatererlebnis!

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