6 – Keine Zeit fürs Nichtstun

Londonkraftwerk

Einfach mal für ein Stündchen am Fenster im Sessel versinken, die Beine hochlegen und den Wolken beim Durchkreuzen des Himmelblaus hinterherschauen – das wäre schön, allerdings wäre es auch schade um die unnütz verstrichenen sechzig Minuten. Was ich alles schaffen könnte in dieser einen Stunde: mehrere Buchkapitel lesen, E-Mails schreiben, mit Freunden telefonieren, im Internet recherchieren, Unterlagen sortieren, die kommende Arbeitswoche organisieren … Nein, faul im Sessel hocken, das ist mir definitiv zu unproduktiv.

In Sachen Zeitverwertung treibt mich ein gnadenloser Anspruch, fürs Nichtstun bleibt da schlichtweg keine Zeit. Die Gestaltung meiner Tage, Stunden und Minuten unterliegt bei mir – wie bei vielen anderen Mitgliedern der heutigen Leistungsgesellschaft – einer Logik der Effizienz. Diese Logik funktioniert ganz im Geiste des vorherrschenden Neoliberalismus, der einen Imperativ der Leistung und Effizienz propagiert. Das zumindest behauptet Byung-Chul Han. Der in Seoul geborene und in Deutschland lehrende Philosoph kritisiert die Leistungsethik des Neoliberalismus, denn diese nehme die Zeit selbst in Geiselhaft und fessle sie an die Arbeit. Somit habe sich letztlich all unsere Zeit in Arbeitszeit verwandelt: „Die Arbeitszeit hat sich heute zu der Zeit schlechthin totalisiert. Sie ist die Zeit, die sich beschleunigen und ausbeuten lässt.“

Diese Tyrannei der Arbeitszeit ziehe eine freiwillige Selbstausbeutung der Menschen nach sich. In einer beschleunigten Welt, in der ein permanenter Wettbewerb herrscht, muss der Einzelne ständig an der eigenen Selbstoptimierung arbeiten, um mithalten zu können.

Mit diesem Thema beschäftigt sich auch der Soziologe Hartmut Rosa. Seiner Meinung nach erzeugen Wettbewerb und Beschleunigung Angst – und zwar die Angst, im unendlichen Kosmos der Möglichkeiten etwas zu verpassen oder in einer unablässig sich wandelnden Welt ins Hintertreffen zu geraten, weil man nicht up to date sei. Angst stifte, so Rosa, jedoch eine problematische Beziehung zur Welt, die einem glücklichen Leben im Wege stehe.

Einer ruhelosen Gesellschaft – deren Mitglieder aus Angst nicht dazu in der Lage sind, sich dem Imperativ der Leistung und Effizienz für längere Phasen zu entziehen – droht auf Dauer Ermüdung und Frustration. Jeder Mensch benötigt Auszeiten, in denen er sich einmal voll und ganz herauslösen kann aus dem Kreislauf der Produktivität.

Die Notwendigkeit von Ruheperioden ist selbstverständlich auch vielen Verantwortlichen in der Arbeitswelt bewusst. So hat beispielsweise der Direktor der Stadtverwaltung des niedersächsischen Vechta seinen Mitarbeitern eine zwanzigminütige Zusatzpause verordnet, damit sie ein Mittagsschläfchen halten können. Was man früher Nickerchen nannte, heißt heute Powernap – und der Begriff deutet bereits an, dass es weniger um das Nichtstun geht, sondern dass diese Pause vielmehr Bestandteil einer Verwertungslogik bleibt. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, dass die Beamten anschließend mit neuer Kraft um so produktiver zu Werke gehen. Für Byung-Chul Han ist die Pause daher lediglich eine andere Phase der Arbeitszeit.

Vollständig entziehen kann man sich dem Zeitverwertungsdruck in unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft tatsächlich nur schwer. Dabei kann das Nichtstun doch so schön sein, wie ein Blick in einen Klassiker der russischen Literatur belegt. Dem großen Verweigerer Oblomow – dem Protagonisten aus Iwan Gontscharows gleichnamigen Roman (1859) – gelingt es zwar über zweihundert Seiten lang nicht, aus seinem Bett zu steigen, doch immerhin gelingt es ihm, das unstete Treiben und den Erwartungsdruck seiner Umwelt an sich abprallen zu lassen. Vielleicht muss man das Nichtstun nicht so sehr wie Oblomow perfektionieren, aber man könnte ihm in einer Welt, in der die ruhelos Tätigen so viel gelten, zumindest ein wenig nacheifern und versuchen sich hin und wieder dem Nichtstun anzunähern.

Kroatienküstenhimmel

 

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