Oh mein Utopia

Pirandello1

In feiner Regelmäßigkeit keimt eine gewisse Sehnsucht in mir auf – und zwar immer dann, wenn meine diversen Mailpostfächer überquellen, meine To-do-Liste trotz 60-Stunden-Woche Tag für Tag weiter wild auswuchert und mein so liebgewonnenes Smartphone in der Hosentasche mit einem sanften Brummen dauervibriert, während sich meine Facebook-Freunde in Rage reden, die BILD-Titelseiten meinen Puls hochtreiben und ich bei meinen Radtouren durch die Stadt tagtäglich ein gutes Dutzend Mal überdimensionierten Blechkarossen ausweichen muss, um nicht auf direktem Wege von einer Stoßstange ins Nirwana katapultiert zu werden.

Wenn all das zusammenkommt, dann ist es wieder so weit, dann sehne ich mich nach einer von mir selbst zusammengezimmerten Hütte auf einem Hügel irgendwo im Niemandsland, mit Blick auf einen See und eine Blumenwiese. Weit und breit keine Menschenseele, keine Asphaltrennstrecken für SUVs, kein Internet, kein Facebook, kein Mobiltelefon!

Meine Tage begönne ich mit ein paar Runden im kristallklaren Wasser des Sees und einigen Yoga-Übungen auf der Blumenwiese. Anschließend säße ich vor der Hütte auf einer Holzbank, ließe mich von der Morgensonne mit Vitamin D betanken und schaute meinen Nachbarn – Hase, Reh und Fuchs – dabei zu, wie sie auf der Wiese friedlich vereint miteinander herumtollten. Danach läge ich einfach nur im Gras, um dem Wind zu lauschen oder das Schauspiel der Wolken auf dem weiten Blau über mir zu betrachten. Ab und an schlüge ich ein sorgsam ausgewähltes Buch auf und läse in homöopathischen Dosen ein paar Seiten, die ich dann in aller Ruhe auf mich einwirken ließe. Jeden Nachmittag kritzelte ich ein paar Sätze in mein Tagebuch oder schriebe an jenem einen Brief weiter, den ich jeweils am Monatsende per Brieftaube an meine Familie schickte. Abends säße ich am Lagerfeuer, knackte zusammen mit einem Eichhörnchen Nüsse und ließe mir von einem Igel den Rücken kratzen, während eine Nachtigall ein Lied von Leonard Cohen zwitscherte.

So sähe es aus, mein alternatives Leben; und eigentlich spricht alles für dieses Leben.

Doch immer dann, wenn ich endlich bereit scheine, diese Utopie zu verwirklichen, simst mir ein lieber Mensch einen Smiley, laden mich Freunde per Mail zum Essen ein, postet jemand bei Facebook einen Konzerttermin meiner Lieblingsband – und dann denke ich, während im Hintergrund via Youtube ein famoser Song läuft, dass die Welt, in der ich lebe, doch eigentlich gar nicht so übel ist und dass die Menschen, denen ich in diesem Kosmos begegne, in erster Linie herzensgute Wesen sind. Und während ich auf dem Sofa liege und der Musik lausche, spüre ich, dass alles bloß eine Frage der Perspektive ist und dass ich genauso gut hier bleiben kann. Hier, wo alles ist, was ich benötige. Hier, wo in der Nachbarschaft meine Freunde wohnen. Hier, wo nur ein paar Meter weiter, hinter dem Deich, ein Fluss fließt, der sich im Sommer in einen Badesee verwandelt. Hier, wo mein Sofa, mein Bücherregal und meine Stereoanlage mit der Schallplattensammlung stehen. Hier, wo ich inzwischen längst verwurzelt bin.

Eine Stadtflucht wäre definitiv die falsche Reaktion, wäre vor allem keine Lösung für meine Probleme, wäre vielmehr eine Kapitulation vor den Anforderungen der Welt. Und dann wäre da noch eine kleine, aber nicht komplett unwesentliche Tatsache, die meinem Auszug in die Natur hinaus, im Wege stehen könnte: Der Fakt, dass ich überhaupt nicht wüsste, genaugenommen nicht einmal den leisesten Hauch einer Ahnung hätte, wie man ganz alleine in der Einöde, fern von jeglicher Zivilisation, wie man dort so eine Hütte, die ja zumindest ein Minimum an Komfort bieten und nicht beim ersten Windstoß direkt auseinanderfallen sollte, wie man eine solche Hütte also, mit allem was dazugehört, wie man die korrekt und fachgerecht zusammenzimmert.

Wie das gehen soll, das wüsste ich einfach nicht – zumindest nicht ohne ein anschauliches Anleitungsvideo aus dem Internet.

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Eingeordnet unter Bremen, Glossen

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