Peter Stamm erzählt vom plötzlichen Ausbruch aus der Familienidylle
Astrid und Thomas sitzen an einem Sommerabend auf der Holzbank im Garten vor ihrem Haus und trinken Wein. Gerade erst vor ein paar Stunden ist das Ehepaar aus den Ferien heimgekehrt; die Koffer stehen noch unausgepackt im Flur, dafür liegen die Kinder bereits im Bett. Doch als eines der Kinder quengelt, steht Astrid auf und geht ins Haus. Thomas bleibt allein zurück, sitzt eine Weile einfach nur da und blickt in den Garten hinaus. Als er hört, wie seine Frau die Koffer auszupacken beginnt, stellt er sein Weinglas zur Seite, steht auf, macht ein paar Schritte, öffnet das Gartentor, geht die Dorfstraße hinunter, biegt in den Wald ab und verschwindet.
Astrid bemerkt das Verschwinden ihres Ehemanns erst am nächsten Tag. Doch statt mit irgendwem darüber zu reden, versucht sie vorerst sein Verschwinden zu verheimlichen und belügt ihre Kinder und Thomas’ Arbeitgeber. Zwar sorgt sie sich, doch zugleich möchte sie keine Aufmerksamkeit erregen und die Alltagsfassade aufrechterhalten. Währenddessen entfernt sich ihr Mann immer weiter von der Familie, zieht ziellos über Wiesen und Felder Richtung Berge. Seine Motivation bleibt dabei im Verborgenen, es scheint, als sei ihm auf einmal die Kraft und Zuversicht abhandengekommen, sein Leben mit Familie, Haus und Karriere fortzuführen.
Der 53-jährige Schweizer Peter Stamm erzählt in seinem Roman „So weit über das Land“ in einer schnörkellosen Sprache von einem Durchschnittsleben, in dem sich ein feiner Riss auftut, der sich ganz plötzlich in einen Abgrund zu verwandeln scheint. Nahezu unmotiviert wirkt der Weggang von Thomas – als wäre dieser keine bewusste Entscheidung, sondern hätte sich lediglich aus dem Moment heraus ergeben. Doch obwohl seine Motive nicht benannt werden, bleibt Thomas‘ Handeln nicht unverständlich. Im Gegenteil: Zumindest all jene dürfte seine Geschichte berühren, die selbst schon einmal tief in sich die Sehnsucht verspürt haben, ihr Leben mit all seinen Verpflichtungen hinter sich zu lassen.
Peter Stamm: Weit über das Land. S. Fischer, Frankfurt am Main. 224 Seiten, 19,99 €.