Schlagwort-Archive: Familiengeschichte

Möchtegern-Gangster

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Schön schräg – Teresa Präauers Roman über einen Problem-Teenager

Motter, wo ist mein Mobiltelefon?!“, schreit Schimmi aus dem 13. Stock in die Nacht hinaus, wenn seine Mutter ihn mal wieder allein gelassen und vorher das Handy einkassiert hat, damit Schimmi nicht die Telefonkosten in die Höhe treibt. Schimmi heißt eigentlich Jim und ist der jugendliche Held in Teresa Präauers dritten Roman „Oh Schimmi“. Wobei Schimmi vor allem eins ist: ein Maulheld. Der ziemlich überdrehte Teenager hat eine extrem große Klappe, mit der er ordentlich Sprüche klopft, so wie es sich für einen Gangster-Rapper gehört – denn dafür hält er sich in seiner maßlosen Selbstüberschätzung.

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Abschied vom alten Leben

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Peter Stamm erzählt vom plötzlichen Ausbruch aus der Familienidylle

Astrid und Thomas sitzen an einem Sommerabend auf der Holzbank im Garten vor ihrem Haus und trinken Wein. Gerade erst vor ein paar Stunden ist das Ehepaar aus den Ferien heimgekehrt; die Koffer stehen noch unausgepackt im Flur, dafür liegen die Kinder bereits im Bett. Doch als eines der Kinder quengelt, steht Astrid auf und geht ins Haus. Thomas bleibt allein zurück, sitzt eine Weile einfach nur da und blickt in den Garten hinaus. Als er hört, wie seine Frau die Koffer auszupacken beginnt, stellt er sein Weinglas zur Seite, steht auf, macht ein paar Schritte, öffnet das Gartentor, geht die Dorfstraße hinunter, biegt in den Wald ab und verschwindet.

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Das Leben ist kein Film

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Antonia Baum schreibt gegen den drohenden Tod ihres Vaters an

Du bist ein Vampir am Bett deines Vaters.“ Mit dieser Selbstanklage konfrontiert sich die Autorin Antonia Baum, nachdem ihr Vater mit dem Motorrad verunglückt ist und sie darüber zu schreiben beginnt. Die Schriftstellerin bangt um ihren schwerverletzten Vater und verarbeitet den Unfall auf eine für sie naheliegende Art: schreibend. Doch wenn eine Autorin zu schreiben beginnt, dann stellt sich – selbst wenn es sich vordergründig um ein therapeutisches Schreiben handeln mag – irgendwann die Frage, ob aus dem Text nicht auch ein Buch werden könnte. Wenn sie aber aus ihrer Familientragödie kreatives Kapital schlägt, ist sie dann nicht eine Art Blutsaugerin, die sich vom Leid der anderen nährt?

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Variante der eigenen Biographie

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Mit seinem Liebesroman „Das Kind, das nicht fragte“ setzt der Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben Hanns-Josef Ortheil sein großes autobiographisches Schreibprojekt fort: Er erzählt die Geschichte eines kleinen Bruders, der sich in einer sizilianischen Kleinstadt von seiner Vergangenheit zu lösen versucht und dabei die Liebe seines Lebens findet.

Noch bevor Benjamin Merz sizilianischen Boden unter den Füßen hat, befindet er sich mitten auf der Gangway der Passagiermaschine in der ersten peinlichen Situation: Eine Stewardess versucht mithilfe einer Serviette die klebrigen Spuren einer Marzipanorange von seinen Fingern zu entfernen, während ihn „die anderen Fluggäste aus dem Inneren des wartenden Busses so entsetzt anstarren, als wäre gerade ein großes Unglück passiert.“ Um der misslichen Lage zu entfliehen, wickelt er die Serviette „geschickt wie einen Verband“ um seine Finger; die Stewardess schaut ihm „etwas besorgt hinterher“, doch schließlich schafft er es, „den Boden Siziliens ohne weitere Komplikationen zu betreten“.

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Die fünf Leben der Frau Hoffmann

Erpenbeck - allerTage

Jenny Erpenbeck schenkt in ihrem Roman „Aller Tage Abend“ einer Frau fünf Leben und entwirft dabei eine kunstvoll komponierte Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Mit jedem Menschen stirbt eine Vielzahl von Möglichkeiten. So viele Ereignisse hätte jener Mensch in seinem Leben noch mit anderen teilen, so viele Taten vollbringen, so viele Worte sprechen können. Insbesondere beim Tod eines Kindes scheint mit ihm ein Universum an Optionen zu erlöschen.

Jenny Erpenbeck setzt an den Anfang ihres neuen Romans „Aller Tage Abend“ den Tod eines sehr jungen Menschen. Knapp acht Monate alt ist der Säugling eines frisch verheirateten, im galizischen Brody lebenden Ehepaars, als er eines Nachts zu atmen aufhört. Die Eltern wissen nicht, was zu tun ist – ihr Baby stirbt ihnen unter ihren Händen weg, lässt sie allein mit ihrer Hilflosigkeit, Verzweiflung und Trauer. Die Mutter des verstorbenen Kindes fällt für einige Tage in eine Starre: Auf einer Fußbank hockend lässt sie alles um sich herum geschehen, lässt sich nicht trösten, isst nicht, redet nicht, sondern beklagt für sich allein im Stillen, dass sie niemand auf eine solche Situation vorbereitet hat, „dass niemand ihr vorher gesagt hat, dass das Leben nicht funktioniert wie eine Maschine“.

Ihr Mann, ein k.u.k Beamter der österreichisch-ungarischen Monarchie, flüchtet sich in die Gastwirtschaft, bemüht sich dort, seiner Trauer mit Schnaps beizukommen und entschließt sich letztlich, nicht heimzukehren, sondern fortzugehen – und zwar für immer. Während der Entschluss in ihm reift, fragt er sich: „Zeugt es von Feigheit, wenn man sein eigenes Leben verlässt, oder von Charakter, wenn man die Kraft hat, neu zu beginnen?“ Er findet keine Antwort auf diese Frage, lässt sein altes Leben dennoch hinter sich und seine Frau zurück. Diese muss ihren Alltag allein meistern und rutscht nach und nach in die Prostitution.

Das klingt nach einer tragischen Familiengeschichte, die einen anderen Verlauf hätte nehmen können, wäre das Kind in jener Nacht nicht gestorben. Was wäre, wenn die Mutter in jener Nacht genau gewusst hätte, was in einem solchen Augenblick, in dem ihr Baby zu atmen aufhört, zu tun ist? Wenn sie statt hilflos dazustehen, das Fenster aufgerissen, sich eine Handvoll Schnee von der Fensterbank gegriffen, es dem Säugling an die Brust gedrückt und ihren kleinen Liebling damit ins Leben zurückgeholt hätte? Dann wäre alles anders gekommen!

Genau diese Idee, dass ein kleines Detail den Verlauf der Geschichte entscheidend verändern kann, wird bei Erpenbeck zum Motor ihres Romans. Nach knapp 70 Seiten setzt sie einen Cut, entwickelt in einem Intermezzo einen Gegenentwurf zu den Geschehnissen jener Nacht, in der das Herz des Säuglings zu schlagen aufhörte. Sie lässt die Mutter in den Schnee greifen, lässt sie das kalte Weiß an die junge Brust drücken und damit den Säugling weiterleben.

Im zweiten der insgesamt fünf Bücher des Romans begegnen wir der Familie siebzehn Jahre später im Wien des Jahres 1919. Mann und Frau sind einander treu geblieben, ihre älteste Tochter wird bald achtzehn. Es ist Januar, der Winter ist streng und das Leben ein halbes Jahr nach Kriegsende hart. Die Menschen leiden Hunger, stehen in der Kälte Schlange für Essen oder verrecken an der Spanischen Grippe. Das Mädchen (dessen Namen uns die Autorin nicht verrät) darf im zweiten Buch zwar länger leben, doch sie ist nicht dankbar für dieses Leben, sondern leidet an der Trostlosigkeit sowie dem täglichen Überlebenskampf: „Nun war sie mitten in ihrem eigenen Krieg, in dem kam es ihr, fern von Bomben, Granaten und Giftgas, dennoch unendlich schwer vor, einen Tag von morgens bis abends und durch die Nacht hindurch zu überleben.“

Und dieses Überleben will ihr auch nicht gelingen; schließlich geht sie zugrunde an einer Melange aus Weltschmerz und Liebeskummer. Als ihr zufällig ein junger Mann begegnet, der ebenfalls aufgrund eines gebrochenen Herzens des Lebens überdrüssig scheint und außerdem eine Pistole besitzt, keimt in ihr eine düstere Hoffnung auf: „Jetzt gibt es im Innern der Kugel, die für sie bisher immer unendlich war, plötzlich diese kleine schäbige Tür.“

Sie durchschreitet diese Tür, setzt ihrem Leben ein Ende und beginnt im dritten Buch ein neues. Nun hat sie den Zeitpunkt, in dem „sich ihre Lebensmüdigkeit in einen Tod verwandeln konnte“, verfehlt und sich stattdessen ans Leben geklammert. Insgesamt fünf Mal lässt Erpenbeck ihre Hauptfigur sterben und vier Mal wieder auferstehen – nur ganz am Ende des Romans ist der Tod endgültig.

Es ist beeindruckend, wie Jenny Erpenbeck die Geschichte immer wieder von Neuem variiert und wie sie dadurch eine plastische Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Über das Wien der Nachkriegszeit geht es in die Dreißigerjahre nach Moskau, von dort in die DDR und schließlich ins wiedervereinigte Deutschland. Das sind die Stationen der verschiedenen Lebensläufe der Hauptfigur, die erst im letzten Buch einen Namen bekommt – Frau Hoffmann.

Die 1967 in Ost-Berlin geborene Jenny Erpenbeck – die für ihren letzten Roman „Heimsuchung“ 2009 mit dem Preis der LiteraTour Nord ausgezeichnet wurde – hat mit „Aller Tage Abend“ ein kunstvoll komponiertes Werk vorgelegt, für das sie in diesem Jahr den mit 12.000 Euro dotierten Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen erhält. Die studierte Musiktheater-Regisseurin verknüpft die fünf Bücher innerhalb des Romans jeweils mit einem kurzen, widerborstigen Intermezzo, das den vorangegangen Tod der Protagonistin beiseiteschiebt und zur nächsten Variation dieser Lebensgeschichte überleitet. Dabei findet Erpenbeck für jedes Buch den richtigen Ton, sie wählt ihre Worte mit Bedacht und schildert mit einer schnörkellosen Sprache die Härte des Lebens. Hinzu kommt eine Unmenge an starken Sätzen, die aus einer existenziellen Tiefe schöpfen und lange nachhallen – so wie der Roman als Ganzes aufgrund seiner feinen Komposition und Intensität noch lange nachklingt.

Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend. Knaus, München. 288 Seiten, 19.99 €. (August 2012)

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