Anne Weber spürt ihrem Urgroßvater nach
Nicht jeder vermag, wenn er seinen Stammbaum entfaltet, auf einen Vorfahren verweisen, der mit Walter Benjamin, Martin Buber und Hugo von Hofmannsthal befreundet war. Die deutsch-französische Schriftstellerin Anne Weber hat mit Florens Christian Rang indes tatsächlich einen Urgroßvater, der mit diesen Geistesgrößen rege verkehrt hat. Was läge da näher, als hinabzutauchen in die Familiengeschichte, um zu ergründen, wer genau dieser Mann war?
In ihrem Lang-Essay „Ahnen“, der zeitgleich auf Deutsch und Französisch erschienen ist, nähert sich die 50-jährige Autorin ihrem Urgroßvater an, indem sie seine Briefe, Tagebuchnotizen und Bücher studiert. Anhand seiner hinterlassenen Schriften versucht sie, ein Bild zu zeichnen von diesem Mann, der von 1864 bis 1924 gelebt hat und als Jurist, evangelischer Pfarrer und Schriftsteller aktiv war. Zudem begibt sich Weber auf eine Reise nach Polen, wo Rang zwischen 1890 und 1904 in der Nähe von Posen als Pfarrer gewirkt hat.
Sowohl beim Lesen als auch beim Reisen zeigt Weber sich als einfühlsame Beobachterin, die exemplarische Szenen sowie Zitate herauszugreifen versteht, um nicht nur die Silhouette einer faszinierenden Persönlichkeit aufschimmern zu lassen, sondern darüber hinaus die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu beleuchten. Bei diesem Ausloten der Geschichte, das auch die Verstrickungen ihres Großvaters während des 3. Reichs umfasst, ringt die Autorin immer wieder mit sich selbst, zweifelt an ihrer eigenen Position und Legitimation, im Rückblick über Familienmitglieder zu urteilen. Mithilfe dieser Reflektiertheit und nicht zuletzt aufgrund ihrer poetischen Sprache ist Weber ein ebenso tiefsinniger wie fein gewebter Essay gelungen.
Anne Weber: Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch. S. Fischer, Frankfurt am Main. 272 Seiten, 19,99 €.