Der Berserker im Sarg

Dutli

In „Soutines letzte Fahrt“ verwebt Ralph Dutli in expressiver Sprache Historie und Fiktion zu einem furiosen Romandebüt über den weißrussisch-jüdischen Maler Chaïm Soutine.

Frankreich im August 1943. Weite Teile des Landes sind von den Nazis besetzt, der Rest wird vom Vichy-Regime verwaltet, das mit dem Deutschen Reich kollaboriert. Wegen der Okkupanten musste der jüdische Maler Chaïm Soutine bereits im Sommer 1941 aus seinem geliebten Paris in ein Dorf im Tal der Loire fliehen. Doch am 6. August 1943 kehrt er zurück in jene Metropole, in der er als Künstler groß geworden ist und über dessen Boulevards unnachgiebig die Nazis marschieren. Die Umstände der Rückkehr sind indes nicht alltäglich: Soutine steuert Paris im Rückraum eines Leichenwagens an – allerdings nicht als Leichnam, sondern als Lebender, der jedoch von einem auswuchernden Magengeschwür von innen zerfressen wird. Eine Operation in einer Pariser Klinik soll Rettung bringen. Um nicht von den Nazis entdeckt zu werden, reist Soutine auf verschlungenen Pfaden in einem Sarg nach Paris. Es wird jedoch Soutines letzte Fahrt sein, denn drei Tage später, am 9. August 1943, verstirbt der Maler im Krankenhaus. Zu lange war die Operation aufgeschoben worden und viel zu lange hatte die Reise nach Paris gedauert. 24 Stunden hatte der 49-jährige Maler mit Morphin betäubt im Sarg ausharren müssen.

Eine famose Vermischung von Historie mit Fiktion, die Wahn und Wirklichkeit ineinander verschwimmen lässt

Wie genau es Soutine während dieser Stunden ergangen ist, weiß natürlich niemand; dennoch imaginiert der Schriftsteller Ralph Dutli in seinem Roman „Soutines letzte Fahrt“ ein mögliches, sich nahezu ausschließlich im Kopfe des Malers abspielendes Szenario, indem er Erinnerungen, Reflexionen und Halluzinationen zu einem wallenden Bewusstseinsstrom vereinigt. Dabei vermischt er famos Historie mit Fiktion, sodass Wahn und Wirklichkeit ineinander verschwimmen. In Rückblenden entfaltet Dutli die Biografie Soutines, der 1894 in Smilowitschi bei Minsk als zehntes von elf Kindern geboren wird und als Sohn eines armen Dorfschneiders aufwächst. Früh entdeckt Soutine seine Leidenschaft fürs Zeichnen, die ihm seine Familie jedoch mit Prügel auszutreiben versucht. Schließlich flieht er 1909 nach Minsk, ein Jahr später treibt es ihn weiter nach Wilna, wo er an der Kunstakademie studiert. Drei Jahre später kehrt er dem Osten den Rücken und reist zu seinem Sehnsuchtsort – Paris. Dort trifft er in Montparnasse auf all die anderen Maler, haust in den Ateliers der Künstlerkolonie „La Ruche“ (der Bienenstock) und befreundet sich mit dem zehn Jahre älteren Kollegen Amedeo Modigliani, der ihn an den Galeristen Zborowski vermittelt, welcher ihn 1919 nach Céret schickt. Fast drei Jahre bleibt der Maler in der südfranzösischen Kleinstadt südwestlich von Perpignan. Unter der Sonne des Südens entstehen fast 200 Gemälde, furiose Landschaftsvisionen, die vor blutigem Farbenprunk strotzen. Zurück in Paris erfasst ihn im Winter 1922/23 der Erfolg, als sich ein amerikanischer Sammler für seine Werke begeistert und dem Maler Ruhm wie Geld beschert. Doch Soutine bleibt eigenbrötlerisch, hält sich aus der Öffentlichkeit fern und entzieht sich größeren Ausstellungen. In Folge der Finanzkrise beginnt der gewonnene Wohlstand zu bröckeln und im Juni 1940 wird er mit dem Einmarsch der Nazis in Paris zum Verfolgten.

Er lässt die Farben sich aneinander reiben, schürfen, sich verehren, verdammen und verfluchen, erhöhen und niederstrecken, bis sie stammelnd ihr vernarbtes Glück hergeben.“

Dutli entwirft in seinem Roman das berauschende Porträt eines ruhelosen Außenseiters, der sich in seinen ekstatischen Schaffensphasen buchstäblich wie ein Wahnsinniger auf die Staffelei stürzt und mit ungestümer Technik und farbstrotzendem Pinsel zu Malen beginnt: „Er lässt die Farben sich aneinander reiben, schürfen, sich verehren, verdammen und verfluchen, erhöhen und niederstrecken, bis sie stammelnd ihr vernarbtes Glück hergeben.“ In seinen Bildern lässt Soutine die tragische Melancholie des Lebendigen sichtbar werden. Unter seinen Händen mutieren schöne vitale Menschenantlitze zu durchfurchten Greisengesichtern. Er malt Ochsenkadaver, tote Truthähne oder aufgehängte Hasen. Er ist der „Maler der gekreuzigten Kreatur“, der am Leben leidet, der unter dem Geschwür leidet, das ihn regelmäßig zusammenkrampfen lässt, und der unter seiner unstillbaren Unzufriedenheit leidet, die ihn mehrmals dazu treibt, dass er zum „Mörder seiner Bilder“ wird und seine Gemälde mit einem Messer zerstört. Der Anblick seiner Werke quält ihn, und so bricht ab und an „ein verzweifeltes Gewitter aus und Soutine verstümmelt mit gellender Wut“ die von ihm bemalten Leinwände.

poetisch wogende bis wild peitschende Sprache

Dutli gelingt eine formidable Charakterstudie dieses malenden Berserkers, schildert seine Leiden, Ängste und Schmerzen in einer expressiven Sprache. Ein flackernder Rhythmus durchzieht den Roman – teils atemlos rasant mit wilden Wortkaskaden, angetrieben von pulsierenden Verben, teils sanft surrend, mit Schwermut durchtränkt. Und das soll ein Debüt sein? Ja, und nein, denn Dutli ist bei Weitem kein Anfänger; allerdings hat der promovierte Philosoph bisher vor allem als Herausgeber, Übersetzer, Essayist und Lyriker von sich reden machen. Neben einer Biografie über Ossip Mandelstam erschienen von ihm zahlreiche Essaysammlungen, Gedichtbände sowie Sachbücher (unter anderem „Das Lied vom Honig. Eine Kulturgeschichte der Biene“). Zwar hat der 59-Jährige bereits in diesen Werken als Autor geglänzt und den einen oder anderen Preis eingeheimst, doch solch ein sprachwuchtiger Prosa-Erstling überrascht da schon ein bisschen. Weniger verwundert es, dass dieses Debüt 2013 sogleich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist und mit dem Rheingauer Literaturpreis sowie dem Preis der LiteraTour Nord (2014) ausgezeichnet wurde.

Wer eine poetisch wogende bis wild peitschende Sprache liebt, sich für die Pariser Malerszene der Goldenen Zwanziger begeistert und sich gern den Morphin-Delirien, Wutausbrüchen und Qualen eines ekstatischen Visionärs und cholerischen Berserkers hingibt, sollte dieses Buch unbedingt lesen.

Ralph Dutli: Soutines letzte Fahrt. Wallstein, Göttingen. 272 Seiten, 19,90 €. (März 2013)

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