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Tage am Ufer

Notre Dame2

Tagebuchnotiz 12, Paris, Juli 2010

Morgens am Seine-Ufer gegenüber von Notre-Dame unter dem schattenspendenden Geäst der Bäume. Ein Frachter und ein Touristenboot ziehen vorüber, die Schiffsmotoren brummen beruhigend monoton, Wellen klatschen an die Quaimauer, dann wieder Stille, nur aus der Ferne der Klang einer Trompete, jemand spielt „When the Saints go marching in“, während am gegenüberliegenden Ufer ein Mann in den Fünfzigern mit freiem Oberkörper und mehr Haaren auf der Brust als auf dem Kopf skurrile Gymnastikübungen macht, seine hautenge rote Shorts leuchtet dabei in der Sonne, zieht die Blicke der vorüberspazierenden Touristen auf sich, die den Sporttreibenden wie ein seltenes Insekt bestaunen; und wieder schiebt sich ein Frachter ins Bild, erneut ein Boot mit Touristen, die ihre Kameras in die Höhe strecken, aus der Ferne klingt immer noch „When the saints go marching in“ herüber, Wind kommt auf, Blätter segeln in die Seine hinab, Möwen stürzen sich kreischend auf ein Stück Brot, das im Wasser treibt, irgendwo heult eine Alarmsirene auf, Autos hupen, und plötzlich wird alles übertönt von Notre-Dames Glocken, deren Klang anschwillt und für eine Weile alle anderen Geräusche beiseitewischt … dann wieder das Brummen eines Schiffsmotors, das Kreischen einer Möwe, die Hupe eines Autos, das Rascheln der Blätter über mir …

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Zu Besuch bei der alten Dame

Notre Dame1

Tagebuchnotiz 6, Paris, Juli 2010

Auf der Île de la Cité. Vor mir: Notre-Dame mit ihren beiden Türmen. Imposant!. Auch die Schlange vor dem Hauptportal. Reihe mich trotzdem ein. Notre-Dame muss sein! Denken vermutlich auch all die anderen. Drinnen im riesigen Kirchenschiff erhabene Schönheit, viel Altehrwürdiges, Kunstschätze und Reliquien, riesige Fensterrosetten. Geschichte pur in jeder Pore, aber kein Ort der Stille. Eine ruhelose Kathedrale. Alles verstopft mit diesen elenden, vor sich hinmurmelnden, mit Mobiltelefonen bewaffneten Touristen. Ich gehöre natürlich nicht dazu (bin schließlich ein kulturinteressierter Flaneur, der sogar ein analoges Notizbuch aus Papier – ja, Papier! – besitzt; außerdem recherchiere ich selbstredend für meinen fulminanten Parisroman beziehungsweise für eine Erzählung, in der Paris … bla, bla, bla … ). Ein Dilemma. Alles. War schon in Sacré-Cœur so. Überall Trubel. Am liebsten ist mir Paris abseits der populären Plätze – in den kleinen Seitenstraßen, auf dem Trottoir vor einem Café, an einer leicht abseitigen Stelle am Seine-Ufer, auf den Stufen einer versteckten Treppe in Montmartre … Weit, weit über mir, das Gewölbe! Dieser Raum! Diese Weite! Gigantisch!

Wieder draußen vor der Kathedrale der mühselige Versuch, mit meiner alten Knipse die kolossale Dame ins Bild zu rücken, möglichst ohne Menschen, die dazwischenlatschen. Könntet ihr mal alle zur Seite gehen, bitte!

Am Ende ein Foto aus der Halbdistanz, geschossen unter den Blättern eines freundlichen Baumes.

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Schrulliger Wuselkopf

Äußerst gewitzt erzählt Anne Weber von einem modernen Taugenichts

Jemand, der bevorzugt auf seinen Händen in der Öffentlichkeit herumspaziert, seine Miete mit Muscheln bezahlen will und sich liebend gern mit Schwalben, Akazien oder Briefkästen unterhält – so jemand darf sich nicht wundern, wenn man ihn als schrägen Vogel bezeichnet. Genau solch ein schräger Vogel ist Kirio, der äußerst eigentümliche Held in Anne Webers gleichnamigen Roman, der in diesem Frühjahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war. Den Preis hat zwar wer anders bekommen, aber Kirio würde das ganz sicher nicht kratzen, denn Auszeichnungen sind ihm vermutlich so schnuppe wie Geld, Karriere oder Schulterklopfer des Präsidenten höchstpersönlich. Als das Staatsoberhaupt ihm die Schulter tätschelt, ist Kirio allerdings auch just mit Tischfußball beschäftigt, hat also Besseres zu tun – auch wenn er sich zu jenem Zeitpunkt gerade in der Psychiatrie aufhält. Freilich ist der Aufenthalt bloß temporär, denn so einen Wuselkopf, den hält es nirgends lange. Mal lebt er in der freien Natur in einer Höhle, mal in einer Achtquadratmeter-Dachgeschosskammer in der Stadt und dann eben eine Weile in einer staatlichen Einrichtung.

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Der Berserker im Sarg

Dutli

In „Soutines letzte Fahrt“ verwebt Ralph Dutli in expressiver Sprache Historie und Fiktion zu einem furiosen Romandebüt über den weißrussisch-jüdischen Maler Chaïm Soutine.

Frankreich im August 1943. Weite Teile des Landes sind von den Nazis besetzt, der Rest wird vom Vichy-Regime verwaltet, das mit dem Deutschen Reich kollaboriert. Wegen der Okkupanten musste der jüdische Maler Chaïm Soutine bereits im Sommer 1941 aus seinem geliebten Paris in ein Dorf im Tal der Loire fliehen. Doch am 6. August 1943 kehrt er zurück in jene Metropole, in der er als Künstler groß geworden ist und über dessen Boulevards unnachgiebig die Nazis marschieren. Die Umstände der Rückkehr sind indes nicht alltäglich: Soutine steuert Paris im Rückraum eines Leichenwagens an – allerdings nicht als Leichnam, sondern als Lebender, der jedoch von einem auswuchernden Magengeschwür von innen zerfressen wird. Eine Operation in einer Pariser Klinik soll Rettung bringen. Um nicht von den Nazis entdeckt zu werden, reist Soutine auf verschlungenen Pfaden in einem Sarg nach Paris. Es wird jedoch Soutines letzte Fahrt sein, denn drei Tage später, am 9. August 1943, verstirbt der Maler im Krankenhaus. Zu lange war die Operation aufgeschoben worden und viel zu lange hatte die Reise nach Paris gedauert. 24 Stunden hatte der 49-jährige Maler mit Morphin betäubt im Sarg ausharren müssen.

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