Schlagwort-Archive: Preis der LiteraTour Nord

Deprimierende Reduktion

Köhlmeier

Es war eine beunruhigende, eine geradezu unheimliche Nachricht, als Europol vor Kurzem verkündete, dass etwa zehntausend bereits in Europa registrierte minderjährige Flüchtlinge verschwunden seien. Möglicherweise könnten sie in die Hände von Menschenhändlern geraten sein, was noch einmal verdeutlicht: Kinder und Jugendliche, die ohne Begleitung von Erwachsenen nach Europa flüchten, sind besonders gefährdet – so wie das namenlose Mädchen in dem neuen Werk des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier.

Das Mädchen mit dem Fingerhut“ heißt der Kurzroman, in dem der 66-Jährige die traurige Geschichte eines 6-jährigen Mädchens erzählt. Dieses Mädchen, das keinen Namen und keine Vergangenheit zu haben scheint, wird in einem ihr fremden Land in einer ihr unbekannten Stadt ausgesetzt. Niemand kennt das Mädchen und mit niemandem redet sie, da ihr eingetrichtert worden ist, dass sie schweigen solle, wenn andere sie etwas fragen.

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Sehnsuchtsort Ostsee

Sander1

Gregor Sanders feiner Erzählungsband „Winterfisch“

Während die Short Story sich in den USA nicht hinter dem Roman verstecken muss, schlummern Kurzgeschichten und Erzählungen in Deutschland immer noch im Schatten ihres großen Bruders. Ob das an den Lesern oder an den Verlegern liegt, sei dahingestellt – an den Schriftstellern jedenfalls kann es nicht liegen, denn es gibt sie, die deutschen Autorinnen und Autoren, die exzellente Erzählungen schreiben. Zu diesen gehört der 1968 in Schwerin geborene Gregor Sander mit seinem 2011 erschienen Erzählungsband „Winterfisch“.

Für die Titelerzählung dieses Bandes wurde er 2009 beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Er hätte den Preis aber auch für jede andere der insgesamt neun Erzählungen verdient, die alle im Ostseeraum spielen. Dieser Meinung war offensichtlich auch jene Jury, die ihm 2012 den mit 15.000 Euro dotierten Preis der LiteraTourNord verlieh.

Alle neun Texte sind in sich stimmig, erzeugen eine dichte Atmosphäre und blicken auf die See hinaus. Ob Sander die Geschichte alter Studienfreunde auf einem Segeltörn, einer Köchin auf Hiddensee, zweier Zwillingsbrüder in Finnland oder eines Liebespaars auf den Spuren Ingmar Bergmans auf Gotland erzählt: Immer wieder taucht das Meer auf – ist mehr als Kulisse, ist Spielpartner und Sehnsuchtsort zugleich.

Neben der Ostsee kommt auch der DDR in einigen Erzählungen eine zentrale Rolle zu. Sander zeigt in verdichteter, fein gesponnener Form, dass die emotionalen Altlasten eines Systems – die Spuren (inzwischen) eingerissener Grenzzäune und DDR-Familiengeschichten – mithilfe geschickt verwobener Zeitebenen sowie entschlackter Sätze auf 20 Seiten entfaltet werden können. Mit wenigen Worten charakterisiert Sander die Figuren seiner Geschichten, die einen immer gleich mit dem ersten Satz packen und erst wieder aufschrecken lassen, wenn man erkennt, dass man schon wieder auf ein Ende dieser zwar kleinen, aber großartigen Erzählungen zusteuert.

Gregor Sander: Winterfisch. Erzählungen. Wallstein, Göttingen. 190 Seiten.

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Der Berserker im Sarg

Dutli

In „Soutines letzte Fahrt“ verwebt Ralph Dutli in expressiver Sprache Historie und Fiktion zu einem furiosen Romandebüt über den weißrussisch-jüdischen Maler Chaïm Soutine.

Frankreich im August 1943. Weite Teile des Landes sind von den Nazis besetzt, der Rest wird vom Vichy-Regime verwaltet, das mit dem Deutschen Reich kollaboriert. Wegen der Okkupanten musste der jüdische Maler Chaïm Soutine bereits im Sommer 1941 aus seinem geliebten Paris in ein Dorf im Tal der Loire fliehen. Doch am 6. August 1943 kehrt er zurück in jene Metropole, in der er als Künstler groß geworden ist und über dessen Boulevards unnachgiebig die Nazis marschieren. Die Umstände der Rückkehr sind indes nicht alltäglich: Soutine steuert Paris im Rückraum eines Leichenwagens an – allerdings nicht als Leichnam, sondern als Lebender, der jedoch von einem auswuchernden Magengeschwür von innen zerfressen wird. Eine Operation in einer Pariser Klinik soll Rettung bringen. Um nicht von den Nazis entdeckt zu werden, reist Soutine auf verschlungenen Pfaden in einem Sarg nach Paris. Es wird jedoch Soutines letzte Fahrt sein, denn drei Tage später, am 9. August 1943, verstirbt der Maler im Krankenhaus. Zu lange war die Operation aufgeschoben worden und viel zu lange hatte die Reise nach Paris gedauert. 24 Stunden hatte der 49-jährige Maler mit Morphin betäubt im Sarg ausharren müssen.

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Die fünf Leben der Frau Hoffmann

Erpenbeck - allerTage

Jenny Erpenbeck schenkt in ihrem Roman „Aller Tage Abend“ einer Frau fünf Leben und entwirft dabei eine kunstvoll komponierte Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Mit jedem Menschen stirbt eine Vielzahl von Möglichkeiten. So viele Ereignisse hätte jener Mensch in seinem Leben noch mit anderen teilen, so viele Taten vollbringen, so viele Worte sprechen können. Insbesondere beim Tod eines Kindes scheint mit ihm ein Universum an Optionen zu erlöschen.

Jenny Erpenbeck setzt an den Anfang ihres neuen Romans „Aller Tage Abend“ den Tod eines sehr jungen Menschen. Knapp acht Monate alt ist der Säugling eines frisch verheirateten, im galizischen Brody lebenden Ehepaars, als er eines Nachts zu atmen aufhört. Die Eltern wissen nicht, was zu tun ist – ihr Baby stirbt ihnen unter ihren Händen weg, lässt sie allein mit ihrer Hilflosigkeit, Verzweiflung und Trauer. Die Mutter des verstorbenen Kindes fällt für einige Tage in eine Starre: Auf einer Fußbank hockend lässt sie alles um sich herum geschehen, lässt sich nicht trösten, isst nicht, redet nicht, sondern beklagt für sich allein im Stillen, dass sie niemand auf eine solche Situation vorbereitet hat, „dass niemand ihr vorher gesagt hat, dass das Leben nicht funktioniert wie eine Maschine“.

Ihr Mann, ein k.u.k Beamter der österreichisch-ungarischen Monarchie, flüchtet sich in die Gastwirtschaft, bemüht sich dort, seiner Trauer mit Schnaps beizukommen und entschließt sich letztlich, nicht heimzukehren, sondern fortzugehen – und zwar für immer. Während der Entschluss in ihm reift, fragt er sich: „Zeugt es von Feigheit, wenn man sein eigenes Leben verlässt, oder von Charakter, wenn man die Kraft hat, neu zu beginnen?“ Er findet keine Antwort auf diese Frage, lässt sein altes Leben dennoch hinter sich und seine Frau zurück. Diese muss ihren Alltag allein meistern und rutscht nach und nach in die Prostitution.

Das klingt nach einer tragischen Familiengeschichte, die einen anderen Verlauf hätte nehmen können, wäre das Kind in jener Nacht nicht gestorben. Was wäre, wenn die Mutter in jener Nacht genau gewusst hätte, was in einem solchen Augenblick, in dem ihr Baby zu atmen aufhört, zu tun ist? Wenn sie statt hilflos dazustehen, das Fenster aufgerissen, sich eine Handvoll Schnee von der Fensterbank gegriffen, es dem Säugling an die Brust gedrückt und ihren kleinen Liebling damit ins Leben zurückgeholt hätte? Dann wäre alles anders gekommen!

Genau diese Idee, dass ein kleines Detail den Verlauf der Geschichte entscheidend verändern kann, wird bei Erpenbeck zum Motor ihres Romans. Nach knapp 70 Seiten setzt sie einen Cut, entwickelt in einem Intermezzo einen Gegenentwurf zu den Geschehnissen jener Nacht, in der das Herz des Säuglings zu schlagen aufhörte. Sie lässt die Mutter in den Schnee greifen, lässt sie das kalte Weiß an die junge Brust drücken und damit den Säugling weiterleben.

Im zweiten der insgesamt fünf Bücher des Romans begegnen wir der Familie siebzehn Jahre später im Wien des Jahres 1919. Mann und Frau sind einander treu geblieben, ihre älteste Tochter wird bald achtzehn. Es ist Januar, der Winter ist streng und das Leben ein halbes Jahr nach Kriegsende hart. Die Menschen leiden Hunger, stehen in der Kälte Schlange für Essen oder verrecken an der Spanischen Grippe. Das Mädchen (dessen Namen uns die Autorin nicht verrät) darf im zweiten Buch zwar länger leben, doch sie ist nicht dankbar für dieses Leben, sondern leidet an der Trostlosigkeit sowie dem täglichen Überlebenskampf: „Nun war sie mitten in ihrem eigenen Krieg, in dem kam es ihr, fern von Bomben, Granaten und Giftgas, dennoch unendlich schwer vor, einen Tag von morgens bis abends und durch die Nacht hindurch zu überleben.“

Und dieses Überleben will ihr auch nicht gelingen; schließlich geht sie zugrunde an einer Melange aus Weltschmerz und Liebeskummer. Als ihr zufällig ein junger Mann begegnet, der ebenfalls aufgrund eines gebrochenen Herzens des Lebens überdrüssig scheint und außerdem eine Pistole besitzt, keimt in ihr eine düstere Hoffnung auf: „Jetzt gibt es im Innern der Kugel, die für sie bisher immer unendlich war, plötzlich diese kleine schäbige Tür.“

Sie durchschreitet diese Tür, setzt ihrem Leben ein Ende und beginnt im dritten Buch ein neues. Nun hat sie den Zeitpunkt, in dem „sich ihre Lebensmüdigkeit in einen Tod verwandeln konnte“, verfehlt und sich stattdessen ans Leben geklammert. Insgesamt fünf Mal lässt Erpenbeck ihre Hauptfigur sterben und vier Mal wieder auferstehen – nur ganz am Ende des Romans ist der Tod endgültig.

Es ist beeindruckend, wie Jenny Erpenbeck die Geschichte immer wieder von Neuem variiert und wie sie dadurch eine plastische Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Über das Wien der Nachkriegszeit geht es in die Dreißigerjahre nach Moskau, von dort in die DDR und schließlich ins wiedervereinigte Deutschland. Das sind die Stationen der verschiedenen Lebensläufe der Hauptfigur, die erst im letzten Buch einen Namen bekommt – Frau Hoffmann.

Die 1967 in Ost-Berlin geborene Jenny Erpenbeck – die für ihren letzten Roman „Heimsuchung“ 2009 mit dem Preis der LiteraTour Nord ausgezeichnet wurde – hat mit „Aller Tage Abend“ ein kunstvoll komponiertes Werk vorgelegt, für das sie in diesem Jahr den mit 12.000 Euro dotierten Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen erhält. Die studierte Musiktheater-Regisseurin verknüpft die fünf Bücher innerhalb des Romans jeweils mit einem kurzen, widerborstigen Intermezzo, das den vorangegangen Tod der Protagonistin beiseiteschiebt und zur nächsten Variation dieser Lebensgeschichte überleitet. Dabei findet Erpenbeck für jedes Buch den richtigen Ton, sie wählt ihre Worte mit Bedacht und schildert mit einer schnörkellosen Sprache die Härte des Lebens. Hinzu kommt eine Unmenge an starken Sätzen, die aus einer existenziellen Tiefe schöpfen und lange nachhallen – so wie der Roman als Ganzes aufgrund seiner feinen Komposition und Intensität noch lange nachklingt.

Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend. Knaus, München. 288 Seiten, 19.99 €. (August 2012)

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