An der Wilhelm-Kaisen-Brücke sitze ich im Piero, einem kleinen Bistro, das vor einem halben Jahr noch ein Imbiss war, der Kleine Weser hieß – ein passender Name, denn wenn man hinausschaut, kann man auf den schmalen Seitenarm der Weser blicken. Vor allem jedoch hat man freien Blick auf die Brücke, das St.-Pauli-Stift und die Kreuzung mit dem Ostersonntagabendverkehr: ein sachter Autostrom, hin und wieder eine Straßenbahn, einige Fahrradfahrer und viele Fußgänger – Paare (Hand in Hand), kleine Gruppen, Familien, einzelne Spaziergänger; ein junger Mann in Schwarz mit einer Spiegelreflexkamera in der Hand, eine Frau mittleren Alters in hautenger Jeans mit einem Mobiltelefon am Ohr, ein Einbeiniger auf Krücken, für den die Grünphase der Ampel zu kurz ist, um die breite Straße mit den Auto- und Straßenbahnspuren komplett zu überqueren, weshalb er vor der letzten Spur auf der Verkehrsinsel stehen bleiben und seinen Hund zurückpfeifen muss, damit er nicht von den ersten anfahrenden Autos erfasst wird. Der Spitzmischling, der den Plastikgriff seiner Leine im Maul trägt, hält sofort inne und sieht sich nach seinem Herrchen um. Beide warten sie, bis die Autos vorübergerauscht sind, und überqueren dann gemeinsam die Spur. Der Hund läuft wieder voraus, sein Herrchen humpelt hinterher, die anderen Passanten blicken ihnen nach – dem Einbeinigen und dem Hündchen, das seine eigene Leine trägt und bei jedem Kommando seines Herrchens sofort pariert, sich immer wieder umschaut und wartet, wenn sein Herrchen zu weit zurückfällt.
Auch ich schaue den beiden hinterher, bis mein Nudelauflauf vom Betreiber des Bistros serviert wird. Ich bin der einzige Gast, die anderen acht oder neun Stühle sind leer, und der vielleicht knapp fünfzigjährige Betreiber berichtet, dass am Wochenende eigentlich seine besten Tage seien.
„Die sind wohl alle auf der … auf der … wie heißt der Jahrmarkt hinterm Bahnhof?“
„Osterwiese.“
„Ja, sind wohl alle auf der Osterwiese“, sagt er, „oder weg über das Wochenende.“
Ich nicke.
„Wenn der Sommer kommt, wird es hoffentlich noch besser. Ist aber bisher auch schon okay.“
Ich sehe mich um, frage: „Sonst läuft das Geschäft?“
„Ist okay. Ich muss nicht draufzahlen.“
Er erzählt, dass er den Laden seit über einem halben Jahr hat und ich wundere mich, dass mir erst vor zwei oder drei Monaten aufgefallen ist, dass der mehrere Wochen leer stehende Imbiss wieder geöffnet hat. Allerdings habe ich bisher so gut wie nie Gäste gesehen, wenn ich mit dem Rad vorbeigefahren und durch die große Fensterfront hineingeschaut habe.
„Nächste Woche tausche ich das große Fenster gegen eine Schiebetür aus“, sagt er, „dann kann man die Tür aufmachen und im Sommer draußen sitzen.“
„Das klingt nach einer guten Idee“, sage ich, da ich mich schon seit einigen Jahren frage, warum der kleine Platz vor dem Laden so wenig genutzt wird. Auch jetzt stehen nur zwei Stehtische direkt vor dem Fenster, obwohl so viel Fläche da ist.
„Kostet Geld. Muss ich an die Stadt bezahlen. Ist aber nicht so teuer. 300 Euro im Jahr“, sagt er, „Nächsten Monat kommt der Sommer, dann stelle ich mehr Tische raus.“
Er lächelt.
„Vorher habe ich für andere als Koch gearbeitet. Jetzt arbeite ich für mich selbst. Ist besser.“
Ich frage ihn, wo er vorher tätig gewesen sei. Er erzählt, dass er in verschiedenen Restaurants und Bistros gearbeitet habe. Geboren sei er im Iran. Er habe aber eine Zeit lang mit seinem Vater im Irak gelebt, bis Saddam sie rausgeschmissen habe.
„Er hat uns alles Geld genommen. Aber zum Glück hat er uns am Leben gelassen und nur gesagt: Ihr seid Iraner, Ihr müsst das Land verlassen! Also sind wir zurück in den Iran. Aber das Leben dort hat uns nicht gefallen, deshalb bin ich weg nach Deutschland.“
Er erzählt, dass er Arabisch, Persisch, Kurdisch und Deutsch spreche. In Deutschland habe ihm eine Kollegin in der Küche jeden Tag ein neues Wort beigebracht.
„Sehr nette Kollegin.“
In diesem Moment betritt ein weiterer Gast das Bistro, ein etwas grimmig dreinblickender Typ, vielleicht Ende fünfzig, fast raspelkurze graue Haare. Er grüßt knapp, steuert unmittelbar den Kühlschrank an, greift sich eine Flasche Bier und setzt sich damit an einen der drei freien Tische. Der Inhaber geht zu ihm rüber, begrüßt ihn per Handschlag.
„Wie geht es der Mutter?“, fragt er.
Der Gast murmelt etwas, öffnet sein Bier, trinkt einen ersten Schluck. Während die beiden sich unterhalten, esse ich meinen Auflauf, trinke meine Apfelschorle und schaue aus dem Fenster in den Sonntagabend hinaus.
Nachdem ich die Rechnung bezahlt habe, werde ich vom Betreiber freundlich verabschiedet. Bevor ich gehe, erzählt er noch von seinem Sohn, der Boxer sei – sieben Kämpfe, sieben K.o. –, aber sich in der Schule schwer tue, vor allem schwach in Deutsch sei.
„Das Beste ist da: viel lesen!“, sage ich.
Er nickt. „Ja, lesen.“
Ich steige auf mein Rad und frage mich, ob ich nicht ein Buch mit Boxergeschichten aus meinem Regal ziehen und vorbeibringen sollte. Auf dem Deich an der Kleinen Weser rolle ich nach Hause und genieße dabei die allerletzten Strahlen der Abendsonne. Im Sommer, denke ich, werde ich mich häufiger mal abends vors Piero setzen, um eine Kleinigkeit zu essen oder zu trinken.
Als ich dann zwei Monate später, Anfang Juni, vor dem Bistro stehe, ist es geschlossen – und bleibt es auch, bis irgendwann die Jungs vom Karton einziehen und das Papp eröffnen.
Anmerkung
Seit ein paar Jahren arbeite ich (mal mehr mal weniger intensiv) an einem Bremen-Buch, das verschiedene Erzähltexte, Miniaturen, Beobachtungen und Schnipsel versammeln soll, die ich in den vergangenen 15 Jahren geschrieben habe und die einen Bezug zu Bremen haben. Manches davon habe ich bereits hier auf diesem Blog veröffentlicht: kurze Erzählungen wie „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“ oder „Die Legende von der Neustadt“, Prosa-Miniaturen wie „Milchbartänze“, „Wiener Hofgespräche“ oder „Allwetterleser“ und Schnappschüsse wie „Gegrüßte Bierbankraucherinnen“, „Pink-Pudel-Liegestützen“ und „Kohlköniginnen“. Es schlummern allerdings noch etliche weitere Texte in meinen digitalen Schubladen, jedenfalls mehr als genug, um sie fein säuberlich zwischen zwei Buchdeckel zu klemmen und das Cover mit einem Bremen-Stempel zu versehen; auch einen Arbeitstitel, Kapitelunterteilungen und sogar einige Illustrationen gibt es bereits – aber irgendwie will es nicht fertig werden das vermaledeite Bremen-Buch (und ich vermute insgeheim, dass es nicht an den Geschichten liegt, sondern an mir …).
Ein wunderschöner, stimmungsvoller Text, Jens. Gefällt mir außerordentlich gut. Ich finde das Ende doppelt effektiv & bewegend: Nicht nur ist der Laden traurigerweise zu, sondern deine Beschreibung ist so exakt, dass ich die ganze Zeit dachte: Komisch, das kenne ich nicht, das muss direkt neben dem Papp sein. Ich freue mich auf das Buch; wie weit bist du? Übrigens: Direkt gegenüber ist ja schon ein Verlag. 😉
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Merci für die tolle Rückmeldung, lieber Ian. Ja, das Buch … hm, gibt definitiv genügend Material, um es zwischen zwei Buchdeckel zu klemmen und unter die Leute zu bringen. Als du mir damals erzählt hast, dass du an einem Bremen-Buch arbeitest, habe ich aufgehorcht und gedacht „Oha, der also auch“, und dann gemerkt (als du mir etwas mehr erzählt hast), dass es es etwas ganz anderes wird als mein Projekt. Aber der größte Unterschied ist, dass deins längst fertig und unter dem Titel „Bremen erlesen“ im Buchhandel zu erwerben ist (was man unbedingt tun sollte). Und ja genau, da ist natürlich eine Verlag direkt um die Ecke, bei dem man mal klopfen könnte:-)
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Dann mal ran und hin zum Verlag 😄
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