9/11

Gerade einen knappen Monat haben wir die Wohnung unterm Dach in der Wulfhoopstraße, meine Freundin und ich, als morgens das Telefon klingelt. Ein Freund, der ein paar Straßen weiter wohnt, ist am Apparat – der wirklich noch ein Apparat ist (mit Kabel und so), fragt, ob wir das schon mitgekriegt hätten. Was denn?, frage ich. In New York, sagt er, in New York sei ein Flugzeug ins World Trade Center geflogen. Habe er eben im Radio gehört. Ob er vorbeikommen könne, um die Nachrichten im Fernsehen zu schauen.

Ja, sage ich, klar, soll er machen, bis gleich. Im Gegensatz zu ihm haben wir einen Fernseher, wenn auch nur eine kleine alte Kiste ohne Fernbedienung, die meistens unbenutzt in der Ecke steht. Ich schalte den Fernsehapparat an. Meine Freundin steht neben mir, fragt, was los sei, doch da flimmern schon die rauchenden Türme über den Bildschirm.

Zu dritt sitzen wir schließlich einige Minuten später auf dem Sofa, sehen immer wieder das Flugzeug, den Rauch, die aus dem Turm springenden Menschen, die einstürzenden Zwillingstürme und die vor dem Rauch und den Trümmern durch die Straßen New Yorks Davonstürmenden.

Stunden später, am Abend, bin ich mit dem Freund noch unterwegs. Mit einer Flasche Wein ziehen wir durch die Gegend, hocken an der Schlachte auf den Stufen, reden, diskutieren, lassen die Bilder Revue passieren, spazieren durch die Wallanlagen und kommen auf dem Rückweg Richtung Neustadt am Marktplatz vorbei, wo ein knappes Dutzend Leute neben dem Roland mit ein paar Grablichtern auf einigen Decken hocken. Davor ein großes Transparent ausgebreitet, auf dem steht: „In Afrika sterben jeden Tag Menschen!“

Ich frage, worum es bei der Aktion ginge. Sie sagen, dass jetzt so ein riesen Bohei um das World Trade Center gemacht werde, dabei würden in Afrika jeden Tag Tausende Menschen sterben, in Konflikten oder am Hunger, und niemand kümmere sich darum. Ich frage, warum sie dann nicht jeden Tag hier säßen, um zu protestieren, sondern ausgerechnet heute, und was das eigentlich mit den Toten von New York zu tun hätte. Sie erwidern, dass das ganze Getue und die Berichterstattung doch scheinheilig wären und die USA schließlich eine imperialistische Macht, die mitschuldig sei am Tod der vielen Menschen, die jeden Tag in Afrika sterben würden. Daher hätten die USA selbst schuld.

Darauf erwidere ich wiederum irgendwas und wir verstricken uns in einer Diskussion, in der es kontrovers zugeht und irgendwann eine junge Frau sagt, dass die Leute im World Trade Center doch eh nur Banker und Manager gewesen seien, um die es nicht schade wäre. Ich frage sie, ob sie das ernst meine. Ja klar, sagt sie und schiebt noch einmal irgendeine Parole vom imperialistischen Amerika hinterher, die wir aber nur noch halb mitbekommen, da wir bereits weitergegangen sind Richtung Dom, vor dessen Portal ebenfalls einige Grablichter stehen – ohne botschaftsverkündendes Transparent flackern sie leise vor sich hin.

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In Thomas Lehrs Roman „September Fata Morgana“ (Hanser, 2010) gibt es eine Szene zu 9/11, die mich damals beim Lesen schwer beeindruckt hat. Lehr beschreibt darin die Angst einer seiner Hauptfiguren (Martin) um seine Tochter Sabrina und seine Ex-Frau Amanda, die ihr Büro im World Trade Center hat. Lehr schildert intensiv Martins Hilflosigkeit, die Konfrontation mit den Nachrichten über den Anschlag, mit den TV-Bildern, Schlagzeilen und Reaktionen darauf, und letztlich die Gewissheit, dass Ex-Frau und Tochter während des Anschlags im WTC gewesen sein müssen. Dazu die Rückblende zu Amanda, die ihrer Tochter stolz ihr Büro präsentiert, Sekunden bevor das Flugzeuge einschlägt – gegengeschnitten mit der sachlich brutalen Schilderung des physikalischen Prozesses, wie das Flugzeug mit 34.000 Litern Kerosin in den Turm eindringt und alles in Bruchteilen von Sekunden zerstört, und zwar genau in jenen Stockwerken, in denen auch Amandas Büro lag und in dem genau in jenem Moment ihre Tochter vorbeischaute, um ihr eine wichtige Entscheidung im Hinblick auf ihre Zukunft mitzuteilen (eine gemeinsame Busreise mit ihrer frischen Liebe Eric Richtung L.A. zu unternehmen). Die Verzweiflung Martins darüber, dass seine Tochter ausgerechnet in diesem Augenblick dort im Büro gewesen ist. Die aussichtslose Hoffnung, sie könnte doch entkommen sein.

Das ist extrem gut geschrieben, dramatisch in Szene gesetzt, aber nicht überdramatisiert, äußerst emotional, aber nicht gefühlsduselig oder gar kitschig, poetisch und zugleich von einer nüchternen Klarheit. Eine aufsaugende Szene, die mich beim Lesen enorm berührt hat in ihrer Dramatik und Existenzialität, mir die Tränen in die Augen getrieben und zugleich in ihrer Kunstfertigkeit beeindruckt hat.

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9/11. Ein Datum, das sich eingebrannt hat. 20 Jahre später Rückblicke überall, im Radio, Fernsehen, Internet, in den Zeitungen. In der FAZ online ein Artikel über den Fotografen Bill Biggart, dem einzigen Journalisten, der beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben kam, weil er nicht weg-, sondern hingerannt ist, um zu fotografieren, zu dokumentieren (eins seiner Fotos ist auf dem Monitor im Bild zu sehen), im Deutschlandfunk Kultur ein Feature von Kathrin Röggla (really ground zero), in der ZEIT eine Reportage über den langen Schatten des Anschlags …

2 Kommentare

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2 Antworten zu “9/11

  1. Hm, das Feature von Kathrin Röggla heute auch im Bayerischen Rundfunk, Bayern2. Nachdenklich.

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  2. Cora Koltes

    Das Feature von Kathrin Röggla habe ich mir auch angehört, die Mediathek macht’s möglich. Ich habe teils heute Morgen, teils am Nachmittag während der Pendelzeit zugehört. Das Unfassbare, das Überwältigende ist gut zu begreifen. Ich möchte mich am 11.09. bewusst nur mit den Menschen beschäftigen, die getötet wurden, Angehörige verloren haben, die durch die Wucht der Ereignisse aus der Bahn geschleudert wurden. Für mich gehört der 11.09. nur diesen Menschen.

    Was danach gekommen ist: der Kampf gegen den Terror, Guantanamo, Abu Ghraib, Krieg, Folter, Unrecht. Steht an anderen Tagen auf meiner Tagesordnung. Kürzlich habe ich den NDR Podcast Slahi, 14 Jahre Guantanamo gehört. Berührend.

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