Sven Regener ist zum ersten Mal in der Bremer Glocke zu Gast, hat aber dennoch ein Heimspiel bei der Vorstellung seines Romans „Wiener Straße“ – daran ändert auch sein extrem hohes Lesetempo nichts.
Das Berlin-Kreuzberg der frühen Achtzigerjahre scheint ein irrer Kosmos voller schräger Vögel gewesen zu sein. Da hausen Leute in komplett matt-schwarz gestrichenen Wohnungen, spazieren mit Kettensägen durchs Viertel, versammeln sich morgens in der Kneipe zur kollektiven Kaffeemaschinen-Reparatur, schenken in Intimfriseurläden beim Haarewaschen Dosenbier aus oder stellen „verbrannten deutschen Kuchen“ in die Vitrine und nennen das Ganze dann Kunst. Überhaupt scheint beinahe komplett alles Kunst zu sein, was da in den Kneipen, Cafés und besetzten Häusern getrieben wird. Und so verwundert es kaum, dass die Kunst das eigentliche Thema in „Wiener Straße“ ist, dem neuen Roman des Musikers und Schriftstellers Sven Regener.
Der 1961 in Bremen geborene und seit 1982 in Berlin lebende Sänger der Band Element of Crime hat als Schriftsteller mit seiner Lehmann-Trilogie inzwischen einen gewissen Kultstatus erlangt. Sein Debütroman „Herr Lehmann“ wurde 2003 von Leander Haußmann mit Detlef Buck und Christian Ulmen in den Hauptrollen verfilmt, und im Sommer lief die Verfilmung seines letzten Romans, „Magical Mystery“, in den Kinos. Doch damit ist die Erfolgstory noch lange nicht am Ende, denn mit „Wiener Straße“ ergatterte Regener im Spätsommer gar einen Platz auf der stets viel beachteten Longlist des Deutschen Buchpreises. Somit hat nun auch der sogenannte gehobene Literaturbetrieb den Autor geadelt.
Premierenbesuch in der Glocke
Passend dazu hat Regener während seiner Lesetour am Donnerstagabend nicht wie sonst üblich in Bremen in der Kesselhalle des Kulturzentrums Schlachthofs Station gemacht, sondern im deutlich gediegeneren Konzerthaus Glocke. Für Regener ist das eine doppelte Premiere, wie er gleich zu Beginn seiner Lesung gesteht, denn nicht nur habe er noch nie hier gelesen, er sei überhaupt noch nie zuvor in der Glocke gewesen. Gut möglich, dass es vielen im Publikum genauso geht. Im fast vollständig gefüllten Großen Saal tummeln sich Mittvierziger in Kapuzenpullis, neben älteren Damen in Abendgarderobe sowie leger gekleideten Studenten und Lehrern in Cordjacketts. Regeners Fangemeinde zieht sich quer durch alle Schichten und Altersgruppen, und in Bremen scheint sie besonders breit aufgestellt.
Auch wenn der Autor selbst zum ersten Mal in der Glocke zu Gast ist, hat er sogleich etwas Vertrautes entdeckt: Der Gong, der vor der Lesung ertönt sei, klinge genauso wie der Pausengong des Gymnasiums an der Kurt-Schumacher-Allee in der Vahr, wo er bekanntlich aufgewachsen ist. Eine Bemerkung mit Bremen-Bezug, die beim Publikum sofort für gute Laune sorgt. Allerdings war es das dann auch schon, was Regener an Lokalkolorit und an einleitenden Worten zu bieten hat. Er werde jetzt lesen, sagt er noch, und zwar 90 Minuten. Eine Pause werde es nicht geben, da schlaffe nur die Spannung ab, sowohl beim Publikum als auch beim Autor.
Ping-Pong-Dialoge mit einem Affenzahn
Als gelte es das von Beginn an zu verhindern, legt er direkt mit einem Affenzahn los. Bei dem Tempo dürfte es dem einen oder anderen Zuhörer, der das Buch noch nicht kennt, schwerfallen, der Handlung zu folgen, denn im Gegensatz zu seinen anderen Romanen erzählt er in „Wiener Straße“ multiperspektivisch aus der Sicht verschiedener Charaktere. Mal aus der Sicht des schwäbischen Kneipenbesitzers Erwin Kächele, mal aus der Sicht des leicht durchgeknallten Performancekünstlers H. R. Ledigt und mal aus der Sicht des inzwischen legendären Frank Lehmann. Lehmann hat gerade in der Wiener Straße in Erwins Kneipe „Einfall“ einen Job als „Putze“ ergattert, und hat sich damit als frischer Neu-Berliner mitten hineinkatapultiert in die Kreuzberger Subkultur des Jahres 1980.
Wie immer sind es vor allem die endlosen Gedankenschleifen, die Situationskomik und die absurden Ping-Pong-Dialoge, die Regener wie kein Zweiter zu beherrschen scheint, die den Witz und die Dynamik des Romans ausmachen. Und am besten ist all dies eigentlich, wenn es vom Autor höchstpersönlich vorgetragen wird; doch an diesem Abend geht bei dem hohen Tempo die eine andere Pointe oder originelle Nuance ein wenig unter. Auch das Publikum scheint einige Minuten zu benötigen, um sich bei den zahllosen Perspektivwechseln zurechtzufinden und sich den vielen Parallelgeschichten entspannt hingeben zu können. Doch im Laufe des Abends wird die Romanstruktur klarer, steigt der Pegel des heiteren Gelächters, und auch der Schlussapplaus, nach einer kurzen Zugabe, deutet auf eine rundum zufriedene Zuhörerschaft hin. Regener selbst hat nach der Lesung nicht sogleich Feierabend, sondern ist im Foyer der Glocke noch eine ganze Weile damit beschäftigt, im Akkord die Bücher seiner zahlreichen Fans zu signieren.
Sven Regener: Wiener Straße, Galiani Berlin, 304 Seiten, 22,- €