17. Juli 2015 · 14:20

Mit „Das Haus in der Dorotheenstraße“ präsentiert Hartmut Lange fünf neue Novellen, die alle im Berlin der Gegenwart spielen und stets das Wundersame in den Alltag schleusen.
Die Literaturkritikerin Ursula März feierte vor Kurzem im Feuilleton der Wochenzeitung „Die Zeit“ die Rückkehr einer nahezu verdrängten Gattung. Nachdem in den vergangenen Jahren im Bereich der anspruchsvollen Belletristik eine Tendenz zu voluminösen Romanen erkennbar gewesen sei, ließen sich in diesem Frühjahr auffallend viele Novellen auf dem Büchermarkt entdecken. Als Beispiel nannte sie unter anderem schlanke Bücher von Jonas Lüscher, Markus Bundi und Clemens Berger.
Einen Namen erwähnte sie allerdings nicht: Hartmut Lange. Vielleicht ist es auch nicht angemessen diesen Schriftsteller als Vertreter eines frisch ausgemachten Trends zu nennen, denn der 1937 in Berlin-Spandau geborene Lange veröffentlicht bereits seit zwanzig Jahren fast ausschließlich Novellen (sein letzter Roman „Selbstverbrennung“ erschien 1982). Diese Beharrlichkeit ist erstaunlich in einer Branche, in der allen möglichen Texten der verkaufsfördernde Roman-Stempel aufgedrückt wird, während die Novelle im Schatten ihres großen Bruders zu verkümmern droht. Und so ist es eine feine Fügung, dass inmitten einer sich andeutenden Novellen-Renaissance der Novellist par excellence mit dem schmalen Band „Das Haus in der Dorotheenstraße“ fünf neue Novellen vorlegt.
Alle fünf Geschichten spielen im Berlin der Gegenwart, genauer: in der Umgebung des 38 Kilometer langen Teltowkanals. Keiner der Texte umfasst mehr als 35 Seiten und dennoch unterstreicht jeder Einzelne, dass Lange ein Meister der kurzen bis mittellangen Form ist. Die Novellen des studierten Dramaturgen muten auf den ersten Blick wenig spektakulär an: Es gibt nicht viel und vor allem keine spannungsgeladene Handlung. Im Zentrum stehen gewöhnliche Menschen, die routiniert ihren Alltagshandlungen nachgehen, bis – und da setzt dann doch die Spannung ein – eine plötzlich aufflackernde Irritation dazu führt, dass sich Zweifel in ihre Selbstgewissheit mischen.
So ergeht es unter anderem Andreas Schmittke, dem Bürgermeister des brandenburgischen Städtchens Teltow. Der pflichtbewusste Mittvierziger engagiert sich sowohl für die Jugend als auch für die Senioren seiner Gemeinde, verzichtet bescheiden auf einen Dienstwagen, geht freundlich auf seine Wähler zu und widmet sich zudem am Feierabend liebevoll seiner Familie. Alles scheint in bester Ordnung. Zumindest bis zu jenem Tag, an dem sich eine Krähe auf dem Rücksitz seines Peugeot eingenistet zu haben scheint: „Er hatte das Gefühl, es säße ihm jemand im Rücken. Es war ein in sich geduckter, überaus schmaler Schatten, und Andreas Schmittke weigerte sich, in den Rückspiegel zu sehen, um zu überprüfen, ob es eine Krähe war.“
Auch in den folgenden Tagen ist Schmittke bemüht, diesen seiner Vernunft spottenden Schatten zu ignorieren, doch von Tag zu Tag wächst die Irritation. Der bis dahin durch und durch rational agierende Mann beginnt zu zweifeln, irrationaler zu handeln und seine Verpflichtungen zu vernachlässigen. Die Krähe, die außer ihm niemand zu Gesicht bekommt, nistet sich als düsterer Schatten in seinem Leben ein.
Auch die anderen Protagonisten in Langes Geschichten werden mit irrealen Ereignissen konfrontiert, die sich in ihren durchrationalisierten Alltag einschleichen. Ein nach London versetzter Journalist erreicht unter der Mobilnummer seiner in Berlin gebliebenen Ehegattin nur noch einen fremden Mann, ein Hotelberater verwandelt sich in den Augen seiner Frau immer mehr in eine flüchtige Silhouette und ein Spaziergänger trifft im Wald auf eine verstorbene Cellistin.
Stets verändert ein Überraschungsmoment den Verlauf der konzentrierten Handlung. Damit stehen Langes Novellen in der Tradition seiner großen Vorgänger des 19. Jahrhunderts, als das deutschsprachige Novellenschaffen unter Kleist, Goethe, Mörike und vielen anderen seinen Höhepunkt erreichte. Auch Langes Sprache orientiert sich an den Klassikern und wirkt an vielen Stellen beinahe altmodisch. Er beherrscht einen kultivierten Stil, die Variation der Sätze und eine klare Schreibweise, die mit Präzision das Wesentliche fokussiert. Er verzichtet auf überbordende Manierismen oder Psychologisierungen, ist jedoch stets ausgestattet mit einem Gespür für entscheidende Auslassungen, die der Fantasie des Lesers viel Freiraum gewähren.
Einige seiner Geschichten verströmen durch das Wundersame, das ihnen innewohnt, etwas Märchenhaftes. In der Novelle „Die Ewigkeit des Augenblicks“ wirken Anfang und Ende am Kanalufer rätselhaft. Dort beobachtet der Architekt Michael Denninghoff die Krähenschwärme, die jeden Abend pünktlich um acht Uhr am Himmel auftauchen. Denninghoff hat nach dem überraschenden Tod seiner Frau ihre Asche auf dem Meer verstreut, die gemeinsame Wohnung verlassen und den Beruf gewechselt. Als Taxichauffeur versucht er sich mit der neu erworbenen „Freiheit zum Hierhin und Dorthin“ von seiner Trauer abzulenken: „Hinter den Scheiben ringsherum begann die Welt, und man war, man brauchte nur mit dem Fuß auf das Gaspedal zu drücken, ständig unterwegs.“ Doch das permanente Unterwegssein vermag nicht die Leere zu stopfen, die der Tod seiner Frau mit sich gebracht hat. Denninghoffs Versuche, seinem Leben neuen Sinn einzuhauchen, scheitern und er verschwindet schließlich hinter dem Staudenknöterich am Teltowkanal.
Wie bereits in früheren Novellen Langes verwischen sich hier die Grenzen zwischen transzendenter und realer Welt. Es ist nicht zuletzt dieses Merkmal, das den zarten Zauber der Texte ausmacht. Die fünf neuen Novellen aus „Das Haus in der Dorotheenstraße“ stehen damit anderen bekannten Novellen Langes – wie „Das Konzert“ (1986), „Die Wattwanderung“ (1990) oder „Die Bildungsreise“ (2000) – in nichts nach. Hartmut Lange ist und bleibt der Novellenmeister.
Hartmut Lange: Das Haus in der Dorotheenstraße. Novellen. Diogenes, Zürich. 128 Seiten, 19.90 €.
(Mai 2013)