Der Tausendsassa Hans Magnus Enzensberger lässt in „Herrn Zetts Betrachtungen“ einen Alltagsphilosophen über Gott und die Welt sinnieren.
Dieser Mann ist nicht zu fassen. So könnte man Hans Magnus Enzensberger mit einem knappen Satz charakterisieren. Der inzwischen 83-jährige Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber, promovierte Germanist und Georg-Büchner-Preisträger ist sicherlich einer der umtriebigsten und spannendsten Darsteller auf der Bühne der deutschen Literatur seit 1945. „Endlich, endlich ist unter uns der zornige junge Mann erschienen“, jubelte Alfred Andersch 1957 nach der Lektüre des ersten Gedichtbands von Enzensberger. Andersch glaubte in „verteidigung der wölfe“ etwas zu erkennen, „was es seit Brecht nicht mehr gegeben hat: das große politische Gedicht“.
Tatsächlich bezieht Enzensberger sich in jenen ersten wie auch in seinen späteren Gedichten immer wieder auf politische Sujets. Und ja: Die dialektische Argumentation seiner Dichtkunst erinnert hie und da an Bertolt Brecht. Doch noch intensiver als in seiner Lyrik pulsiert das Politische in seinen theoretischen Schriften. Sein Essayband „Einzelheiten“ (1962) liefert eine tiefschürfende Analyse des Zusammenhangs von Poesie und Politik, seine Essays in „Politische Brosamen“ (1982) reflektieren den Desillusionierungsprozess der 68er Bewegung und „Schreckens Männer“ (2006) – Enzensbergers „Versuch über den radikalen Verlierer“ – geht den Beweggründen der islamistischen Selbstmordattentäter nach. Es ließe sich eine Vielzahl weiterer Essays, Prosawerke oder Lyrikbände nennen, in denen politische Motive den Ausgangspunkt bilden. Nicht vergessen werden darf in diesem Kontext die Zeitschrift „Kursbuch“, die Enzensberger 1965 gemeinsam mit dem Kollegen Karl Markus Michel gründete und die in den Folgejahren zur wichtigsten Zeitschrift der Neuen Linken avancierte.
Die Politik ist bis in die Gegenwart hinein der Humus geblieben, der dem Werk dieses produktiven Geistes den nötigen Nährstoff bietet. In den vergangenen Jahren kritisierte er mehrfach die Politik der Europäischen Union und vor Kurzem sprach er in Anbetracht der Überwachungs- und Spionageaffäre in der Sendung „titel, thesen, temperamente“ von „postdemokratischen Zuständen“.
Diese Diagnose findet sich wortwörtlich ebenfalls in Enzensbergers neuem Buch „Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern“. Ein langer Titel für ein Büchlein im DIN-A6-Format, das man ausgezeichnet in der Innentasche des Sakkos unterbringen und mit sich herumtragen kann, um es dann in einer Pause inmitten des ratternden Alltags hervorzuziehen und häppchenweise zu genießen. Der Genuss in Dosen ist allein schon deshalb ratsam, weil es sich bei dem Buch um eine Sammlung von Anekdoten und Aphorismen handelt, denen man Zeit gewähren sollte, damit sie ihr Aroma entfalten und nachwirken können.
Lose miteinander verwoben sind die Bonmots und Geschichtchen durch eine minimale Rahmenhandlung, die rasch erzählt ist: Herr Zett, ein kleiner rundlicher Herr im Rentenalter, der Zigarillos raucht und als Kopfschmuck eine Melone trägt, hockt fast täglich zur Mittagszeit im Park auf einer Bank und doziert über Sitten und Gebräuche, Demokratie und Theologie, Kunst und Kapitalismus, Wissenschaft und Sprache, Medien und Menschen. Eine kleine Gemeinde versammelt sich regelmäßig vor der Parkbank, um Zetts Vorträgen zu lauschen.
So kommen die Zuhörer in den Genuss des einen oder anderen Zitats von Geistesgrößen wie Michel Montaigne, Arthur Schopenhauer oder Hans Blumenberg; aber vor allem gibt es allerlei bissige Aperçus aus Zetts Munde zu vernehmen. Die Gesellschaft sei „ein Despot, der keine Gefängnisse braucht“, das Finanzamt „die bürokratische Nemesis, die sich an unseren Freuden rächt“ und die Hölle müsse ein Ort sein, „der ganz und gar von Designern möbliert“ sei. So scharf oder kulturpessimistisch manch Kommentar dieses versierten Rhetorikers auch klingen mag, stets trägt er die Zustände der Welt mit Fassung, schließlich weiß er um die Schwierigkeit, das Richtige zu tun: „Die Zahl der Fehler, die einem zur Verfügung stehen, ist im Prinzip unbegrenzt, während sich die richtigen Optionen an den Fingern abzählen lassen. Die Wahrscheinlichkeit spricht also dafür, dass das meiste schiefgeht.“
Schimpftiraden sind diesem Stoiker ebenso fern wie prophetisches Pathos oder rechthaberischer Dogmatismus. Wie bereits der Titel andeutet, lässt er seine geistigen Brosamen beinahe beiläufig fallen, ohne großes Trara. Nichtsdestotrotz erhebt sich im Auditorium hin und wieder auch ein Murren oder gar ein Widerspruch. Herr Zett ist dafür durchaus dankbar, denn keinesfalls will er als unfehlbarer Guru gelten, sondern mit seinen Gedankenbröseln schlichtweg zum Sinnieren animieren. In einer seiner letzten Reden spricht Zett einen Leitsatz, der sicherlich ebenso als Maxime für Enzensbergers literarisches wie politisches Engagement gelten dürfte: „Ich möchte weder unter die eine noch unter die andere Fahne treten, die von irgendwelchen Parteien aufgepflanzt wird.“
Enzensberger sah sich im Laufe seines Lebens des Öfteren mit dem Vorwurf konfrontiert, dass er ein Bruder Leichtfuß sei, der allzu häufig seine Positionen wechsle und – wenn es darauf ankomme – zu viel Distanz wahre. Der Autor scheint mit diesem Vorwurf ebenso gut leben zu können wie sein Alter Ego – der untersetzte, Zigarillo paffende Parkbank-Zarathustra. Dieser gesteht seinem Publikum nicht nur freimütig ein, dass er aus hygienischen Gründen „seine Meinungen öfter als sein Hemd“ wechsle, sondern er weiß darüber hinaus um die Ambivalenzen, die sich in jedem Leben auftun, und folgert daraus: „Das Streben nach Eindeutigkeit ist zwar verbreitet, aber zum Scheitern verurteilt.“
Hans Magnus Enzensberger: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern. Suhrkamp, Berlin. 229 Seiten, 15,00 €.
(3.10.2013)