Vor mir streckt sich das Meer aus, hinter mir erheben sich die Dünen, der Himmel glüht in Purpurtönen, der Wind streicht durchs Schilfgras und in der Ferne setzt ein Schwarm Wildgänse zur Landung an. Keine Gebäude, keine Straßenlaternen, keine Motorengeräusche, keine menschlichen Töne, kein Mensch weit und breit. Bevor ich den Weg Richtung Kliff einschlage, stehe ich ein paar Minuten einfach nur da, schaue, lausche und genieße. Diesen Abendmoment hätte ich verpasst, wenn ich meine Tour heute besser geplant hätte. Alles klappt immer irgendwie.
Ich kenne den Weg und die genaue Entfernung nicht, weiß jedoch, in welche Richtung ich gehen muss, um das Kliff zu erreichen. Der Weg am Strand verengt sich nach drei-, vierhundert Metern zu einem Trampelpfad im Schilf, das immer höher wächst, mir irgendwann bis zum Kinn reicht, dabei aber schön im Wind hin- und herschwankt. Plötzlich blicke ich in ein dunkles Augenpaar – irgendein Tier steht wenige Meter entfernt von mir im hohen Gras und starrt mich an. Ich erschrecke, denke erst an einen großen wilden Hund, dem ich hier eigentlich nicht unbedingt begegnen möchte, erkenne dann jedoch, dass es ein Reh ist, das dort im Schilf steht; ein paar Meter weiter steht ein zweites, die Ohrenspitzen ragen aus dem Gras, wenn die Halme sich im Wind leicht zur Seite neigen.
Ich atme auf, gehe weiter, der Pfad wird schmaler, das Schilf wuchert zu beiden Seiten immer höher, inzwischen kann ich nicht mehr darüber hinwegschauen; nur der Himmel bleibt, doch die Purpurfärbungen sind einem tiefen Dunkelblau gewichen (spätestens in einer Viertelstunde wird es ein Nachtblau sein). Ich höre, wie sich im Schilf ein paar Meter von mir entfernt mindestens ein großes Tier bewegt. Ich halte inne. Es werden bloß die Rehe sein, sage ich mir, ängstlich aufgeschreckt von meinen Schritten. Oder vielleicht ein anderes Tier, das nicht vor mir weg-, sondern neben mir herläuft, sich in Position bringt, um mir aufzulauern, mich anzufallen? Quatsch! Welches Tier sollte das sein?
Ich beschleunige das Tempo, halte inne: Auf dem platt getrampelten Gras vor mir liegt etwas langes Dunkles. Ich kann nicht genau erkennen, was es ist oder ob es sich bewegt – vermutlich nur ein schmaler Ast, ich springe dennoch mit einem Satz drüber hinweg und gehe rasch weiter, gelange an eine Art Kreuzung. Geradeaus geht es weiterhin durchs meterhohe Schilfgras, nach links führt ein Pfad Richtung Wasser und nach rechts ein noch schmalerer Trampelpfad Richtung Dünen – wobei ich nicht einmal erkennen kann, ob er tatsächlich irgendwo hinführt oder in einer Sackgasse mündet. Ich schlage den Pfad nach links ein, stehe nach wenigen Schritten in einer Bucht mit Blick auf das Wasser. Enten schrecken mit wildem Geschnatter auf. Ich schaue dabei zu, wie sie einen Bogen fliegen, zwei-, dreihundert Meter weiter wieder landen.
Von der Bucht aus kann ich ein wenig mehr sehen, mir einen Überblick verschaffen: Jenseits der Dünen lässt sich in der Ferne etwas ausmachen, das ein Kliff zu sein scheint, aber ob es tatsächlich bereits das berühmte Morsumer Kliff ist und ob es dort irgendwo auch eine Straße, Häuser oder zumindest Licht gibt, lässt sich von hier nicht erkennen.
Die Dämmerung schreitet voran, und ich stehe hier mitten in der Natur, mitten im Nichts, und weiß nicht, wie weit es noch ist und ob dort, wo ich hinwill, überhaupt irgendetwas ist außer dem Kliff (so ausgezeichnet habe ich mich vorab informiert). Ich wiederhole meinen Gedanken von vorhin: Alles klappt immer irgendwie. Hm.
(Fortsetzung folgt)