Syltschnipsel 11.3. – Lichter

syltanlegerbeinacht

Von der Bucht gehe ich zurück ins Schilf, stehe nach wenigen Schritten wieder an der Stelle, an der mir vier Richtungen offenstehen. Weiter Richtung Kliff marschieren, mit dem festen Glauben, recht bald irgendwo anzukommen, wo mich nicht die einbrechende Dunkelheit verschluckt? Den Pfad einschlagen, der Richtung Dünen führt, in der Hoffnung, nicht im Nichts zu stranden, sondern auf einen Weg oder eine Straße zu treffen? Zur Bucht gehen, mich einfach in den Sand setzen, aufs Meer hinausschauen und abwarten, was passiert, wenn die Nacht einbricht? Oder umdrehen, zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin?

Trotz meiner Sympathie für charakterstärkende Abenteuergeschichten, bewusstseinserweiternde Naturerlebnisse und romantisch mystische Reisen durch die Nacht entscheide ich mich ganz nüchtern für die Umkehr. Mit großen Schritten eile ich zurück, höre erneut Tiere, die sich nur wenige Meter von mir entfernt, doch für mich unsichtbar im Schilf bewegen, und erhöhe mein Tempo. Mein Sinn für die Schönheit der Natur, die ich vor nicht einmal 20 Minuten so bewundert habe, ist nun arg eingeschränkt. Außer Schemen kann ich sowieso nicht mehr viel erkennen, das letzte Abendlicht wird Stück für Stück von der Dunkelheit gefressen, der Mond ist nirgends auszumachen. Ich will bloß noch raus aus diesem meterhohen Schilf.

Am Ende klappt es immer irgendwie. Endlich kann ich wieder über das Gras hinwegschauen, erkenne in der Ferne die Lichter von Häusern und spüre, wie mich das erleichtert, obwohl die Menschen, die in diesen Häusern leben, möglicherweise viel unerträglicher sind, als es hier draußen jemals werden könnte – aber die Lichter beruhigen und deshalb biege ich in ihre Richtung ab, als ich auf einen Weg stoße, der zu den Häusern hinaufführt und nach drei-, vierhundert Metern in eine Straße mündet, in der zwar keine Straßenlaternen leuchten, dafür jedoch allerlei Laternen auf den weitläufigen Grundstücken, auf denen Reetdachhäuser und Villen stehen, in die man durch große Fenster hineinblicken kann – dahinter hantieren Leute in luxuriös anmutenden Küchen, essen zu Abend in Wohnzimmern, die etwas Salonartiges an sich haben, oder sitzen bei einem Kaminfeuer auf einer Couchgarnitur, Weingläser in ihren Händen haltend; hier und da flackern bunte Bilder auf überdimensionalen Flachbildschirmen. Im Auto hat der Hamburger mir von dieser Straße erzählt, hier könne man, wenn man regelmäßig die Bunte lese, wohl den einen oder anderen Promi wiedererkennen. Ich erkenne niemanden – nett anzuschauen ist die Szenerie dennoch.

Schließlich erreiche ich den Bahnhof und gehe direkt von der Straße zu dem einen der beiden Bahnsteige hoch, der sich menschenleer vor mir ausstreckt. Das Bahnhofshäuschen und der Fahrkartenautomat stehen auf der gegenüberliegenden Seite, auf meiner Seite ist nur ein kleiner Unterstand, in dem ein Fahrplan hängt. Laut Plan befinde ich mich zwar auf dem richtigen Bahnsteig, doch der Zug Richtung Westerland ist erst vor fünf Minuten abgefahren, der nächste fährt in einer knappen Stunde. Zeit genug, um mir in Ruhe eine Fahrkarte zu kaufen, also gehe ich zu der Fußgängerüberführung, die beide Bahnsteige miteinander verbindet, steige die Stufen hoch und sehe, wie in diesem Augenblick die Treppe auf der anderen Seite von zwei Maskierten betreten wird. Beide haben sie Scream-Masken vor ihre Gesichter gestülpt und beide halten schlanke Baseballschläger in ihren Händen. Ich gehe langsam weiter, behalte die beiden aber im Blick – mit ruhigen Schritten steigen sie die Stufen hoch, der eine lässt dabei seinen Baseballschläger über die Metallstreben des Geländers klackern, der andere umfasst seinen Schläger mit beiden Händen. Was sind das für Typen? Ihre Gesichter sind hinter den Masken verborgen, doch von ihrer Statur und Kleidung her machen sie den Eindruck von Jugendlichen.

Fast zeitgleich kommen wir oben an. Keine zwanzig Meter trennen uns jetzt voneinander. Ich bleibe erst einmal stehen, weiß nicht so recht, was es mit den beiden auf sich hat. Auch sie bleiben stehen, doch plötzlich streckt der eine seinen Baseballschläger nach vorne, zeigt damit auf mich, und keine zwei Sekunden später beginnen beide zu schreien und rennen mit einer Art Indianergeheul auf mich zu. Ich mache einen Ausfallschritt zur Seite, spanne meinen Körper an, balle die Fäuste dicht vor meinem Brustkorb, ohne Idee, was ich hier oben gegen zwei Maskierte mit Baseballschlägern ausrichten soll; doch bevor ich detailliert darüber nachsinnen kann, sind die beiden auch schon an mir vorbei und laufen lachend die Treppe runter zum Bahnsteig, nehmen dort ihre Masken ab und winken mir zu. Erst in diesem Augenblick fällt mir ein, dass heute Halloween ist. Jetzt muss auch ich lachen, schüttle den Kopf und winke zurück. Die beiden setzten ihre Masken wieder auf, drehen sich um und verschwinden im Dunkel.

Ich gehe die Treppe hinunter zu Bahnsteig 1, sehe auf der digitalen Anzeigetafel, dass der Zug nach Westerland – also der Zug, den ich laut Plan angeblich verpasst habe – 15 Minuten Verspätung hat, ziehe mir rasch ein Ticket am Automaten, eile die Treppe wieder hoch, gehe über die Brücke und kann schon der Ferne die Lichter des Zuges sehen, der mich gleich nach Westerland bringen wird.

Im hell erleuchteten Waggon sitzend drücke ich mein Gesicht gegen die Scheibe, versuche in dem Schwarz dort draußen etwas zu erkennen und mir vorzustellen, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich mich nicht zur Umkehr entschieden hätte, sondern weitergegangen wäre, immer weiter durch das Schilf. Ob es dann auch am Ende wieder irgendwie funktioniert hätte?

syltreetdachhaus

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