
Beim Blättern im Notizbuch wiederentdeckt: Ein kurzer Text aus Zeiten, in denen ich frühmorgens noch in der überfüllten Regionalbahn zur Arbeit fuhr, beim Coffee-to-go noch zu Plastikdeckeln griff und der Begriff Social Distancing noch nicht unseren Alltag prägte. Ein Text, der zudem erklärt, warum ich der Meinung bin, dass man eigentlich nicht vor sieben Uhr morgens aufstehen sollte.
Morgens um kurz vor sieben in der Bahnhofshalle. Bin mal wieder zu spät aus dem Bett gekrochen und ohne Frühstück in den Tag gestartet, kaufe mir deshalb auf die Schnelle noch einen Coffee-to-go und stehe nun vor der Station mit dem zusätzlichen Gedöns (Deckel, Rührstäbchen, Servietten, Zuckertütchen etc.), greife mir rasch einen Plastikdeckel und drücke ihn auf den Pappbecher; allerdings will der Deckel nicht so recht auf meinen Becher passen, weshalb ich leicht hektisch (in fünf Minuten fährt mein Zug) etwas fester drücke … etwas zu fest … nämlich so fest, dass der Becher einknickt und eine Kaffee-Milchschaumfontäne durch die Trinköffnung des Deckels meterhoch in die Höhe schießt, an mir vorbei (puh, Glück gehabt!) auf den Rücken eines Anzugträgers, der nun komplett – vom Kragen übers anthrazitfarbene Jackett bis hinunter zum Hosensaum – mit Cappuccino besprenkelt ist.
Ich starre auf die Rückseite des Mannes, fasse es nicht … Ist das gerade wirklich passiert? Der Mann scheint nichts bemerkt zu haben (vielleicht ist es also wirklich nicht passiert?), jedoch zwei, drei Leute, die um mich herumstehen und nun ähnlich fassungslos auf den Rücken des Mannes starren (offenbar ist es also doch passiert).
Ich reiße sechs, sieben Servietten aus dem Spender und tippe dem Anzugträger von hinten dezent an die linke Schulter. Er dreht sich zu mir um, blickt mich fragend an. Ich erkläre ihm die Situation, versuche ihm ein Bild von seiner Rückseite zu vermitteln, er blickt mich weiter fragend an, lässt mich dann aber stumm mit den Servietten seine Rückseite abtupfen. Ich entschuldige mich dabei ungefähr dreizehn- oder vierzehnmal, bereinige den Schaden grob und entschuldige mich noch ein allerletztes Mal bei dem Mann, der mich wieder fragend anblickt, aber auch kein Wort sagt, als ich mich hastig verabschiede, um meinen Zug zur Arbeit zu erwischen, der zum Glück erst verspätet lostuckert (auf die Unpünktlichkeit der Bahn ist Verlass).
Eingeklemmt zwischen einem Haufen müder Menschen lasse ich während der Zugfahrt die letzten Minuten Revue passieren, sinniere über den Sinn und Unsinn von Arbeit, die vor acht Uhr morgens beginnt, werfe einen Blick in meinen halbleeren Kaffeebecher und stehe eine halbe Stunde später vor meinen Umschüler*innen, um ihnen die Feinheiten des Konjunktivs zu erläutern, derweil eine mir unbekannte Stimme im Flüsterton behauptet, dass ich in Wirklichkeit noch im Bett läge und dies alles nur träumte. Die Realität, flüstert die Stimme, die Realität ist ein oller Onkel im abgewetzten Mantel, der stets recht zu haben meint.
Spätestens in diesem Augenblick weiß ich, dass ein halber Kaffee nicht genügt, um vernünftig in den Tag zu starten, weshalb ich an die andere Kaffeehälfte denke und mich frage, wie wohl der Tag des Cappuccino-befleckten Anzugträgers verlaufen mag …
Na, das mit den Feinheiten des Konjuktuvs hat doch ganz gut geklappt – möchte ich als ehemalige Umschülerin anmerken :)) sah jedenfalls professionell aus und klangte auch so 🙂
Die Stunden zwischen 4:15 Uhr und 8:00 Uhr am Morgen sind prima, auch wenn man nicht schläft. Der frühe menschliche Vogel fängt um diese Zeit nicht immer den Wurm… erlebt aber was!
Die Geschichte ist wunderbar herzerfrischend lustig! Ob der Anzugträger schon so wach war, die Lage zu überblicken? Bewundernswerte Gelassenheit!
Meine Erlebnisse ab 4:15-6:00 reichen von: hektisch ins Auto gesprungen und das Diensthandy im Kaffeebecher – ohne Deckel – ertränkt, über oh Gott! wo ist der Autoschlüssel? Beim Hundegang im dunklen Park aus der Tasche gerutscht??? Der Schlüssel fand sich in der Hose vom Vortag in der Waschmaschine – die vergebliche Suche im Park eingeschlossen, war das schweißtreibend – bis zu dem: ach, kein Brot mehr da – Pudding tuts auch, während dem Fahren, Schalten, Fluchen: schwupps: Schokopudding auf berufsbedingt weißer Klamotte… ein Traum! 😉
Und trotzdem, irgendwo schimmert doch auch das Glück durch: der Anzug-Mann war nicht sauer, der Zug passender Weise verspätet! Der Schlüssel war nicht weg, der Chef entspannt und es war nur Pudding und nicht, was ich in dem Moment dachte: oh, Sch…!
Also: geht doch! 🙂
LikeGefällt 1 Person
Hoffen wir mal, dass es Gelassenheit und nicht Schockstarre war, aber natürlich wären deutlich unangenehmere Reaktionen denkbar gewesen. Und schön zu hören, dass die Vermittlung der Feinheiten des Konjunktivs nachhaltig war:) Muss gestehen, dass ich das Unterrichten in letzter Zeit hin und wieder vermisse – ist alles in allem doch eine sehr sinnvolle und erfüllende Tätigkeit (gewesen). Danke auch fürs Teilen der eigenen frühmorgendlichen Erlebnisse (Kaffeebecher bleiben eine stete Gefahrenquelle und Schlüssel sind manchmal äußerst garstige Wesen mit einem ganz eigenen Willen;)). Alles vor sechs Uhr morgens ist für mich allerdings tiefe Nacht – dementsprechend ziehe ich vor allen den Hut, die zu dieser Uhrzeit arbeiten (ich selbst habe in dieser Hinsicht eigentlich nur als Werkstudent bei Mercedes am Fließband Erfahrungen gesammelt). Also toi toi toi für alle weiteren Gute-Morgen-Abenteuer! 🙂
LikeLike
Danke, danke 🙂
Dank erfolgreicher Umschulung hat sich mein morgendliches Abenteuer-Zeitfenster auf 5:00-7:30 Uhr verschoben, was ich überhaupt nicht schlimm finde 😉 – mittlerweile bewege ich mich seit einigen Jahren im ÖPNV statt im Auto. Was auch kein Schaden ist 🙂 abenteuerlich bleibt es allemale!
Hin und wieder etwas wehmütig an die „alte“ Arbeit zurückdenken – das kenn ich. Es hat halt alles seine Zeit. Hauptsache, die neue Arbeit macht auch zufrieden und Freude! 🙂
LikeGefällt 1 Person