Schlagwort-Archive: Erzählungen

4 – Ein Sammelsurium von Seitenpfadexkursionen

Beyer

In „Putins Briefkasten“ verwebt der Schriftsteller und Kleist-Preisträger Marcel Beyer in acht verspielten Essays virtuos Denkbilder über das Dichten mit Ausflügen nach Brixton, in die Imkerei, die Vogelkunde und Wladimir Putins Dresdener Vergangenheit

Was haben Marcel Proust, der VW Phaethon und eine Katze in Vilnius gemeinsam? Die Antwort: Sie alle finden Platz in „Putins Briefkasten“, einem Büchlein des Lyrikers, Essayisten und Romanciers Marcel Beyer. Der 1965 in Baden-Würtemberg geborene und seit knapp 20 Jahren in Dresden lebende Schriftsteller hat mit Gedichten seine literarische Karriere begonnen, ist mit Romanen wie „Flughunde“ (1995), „Spione“ (2000) und „Kaltenburg“ (2008) bekannt geworden und hat sich dann einige Jahre vor allem dem Verfassen von Opernlibretti zugewandt. 2014 legte Beyer nach 12 Jahren Auszeit mit „Graphit“ endlich wieder einen Gedichtband vor, für den er im Feuilleton mehrheitlich gefeiert und unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Nicht ganz so viel Beachtung hatte die Öffentlichkeit zwei Jahre zuvor einem Taschenbuch geschenkt, das weder Gedichtband noch Roman ist, sondern eine Sammlung von „Acht Recherchen“, denen verschiedene Beiträge zugrunde liegen, die der Joseph-Breitbach-Preisträger (2008) für Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbände verfasst hat.

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Monolog des Flaneurs

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Ulrich Schacht blickt beim Insel-Spaziergang zurück

Ein Endfünfziger unternimmt einen Tagesausflug von Reykjavik zu der winzigen Insel Grimsey. Dort spaziert er umher, genießt die Stille, betrachtet die Landschaft und knipst mit seiner Analogkamera Fotos von allem, was ihm interessant scheint. Dazu gehören eine Skulptur auf dem Friedhof, ein Junge, der in einer Pfütze spielt, ein Leuchtturm, Hunderte sterbender Fliegen in einer leerstehenden Kirche, ein Stahlkutter und die toten Möwen, die überall auf der Insel herumliegen. Jedes Motiv regt den Flaneur an zu Reflexionen oder erinnert ihn an Szenen seiner Kindheit. So schweift er nicht nur auf der Insel umher, sondern auch in seiner Gedankenwelt.

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Groteske Erzählungen über die Fragilität unserer Welt

Hohler

Ein Junggeselle spaziert in eine Zoohandlung, um sich ein Haustier anzuschaffen. Im Laden entscheidet er sich für ein geheimnisvolles Tier, das zusammengerollt im Käfig liegt. Das undefinierbare Wesen bleibt auch während der ersten Wochen zusammengerollt, offenbart nur nach und nach ein kleines Händchen, seinen Schwanz und einen Huf. Der Mann rätselt, welcher Gattung sein Haustier zugehören könnte und bekommt eines Tages unverhofft Gewissheit, als das Wesen durch einen im Radio übertragenen Gottesdienst aufgeschreckt wird: Zitternd, mit den Fingerchen die Gitterstäbe des Käfigs umklammernd steht er mit aufgerissenen Augen da – der kleine Teufel. Der Mann nimmt seinen neuen Mitbewohner mit stoischer Gelassenheit hin: „Ich hatte nichts dagegen, einen Teufel als Haustier zu haben, und ich nahm mir vor, genau so weiter zu leben wie bisher.“

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Die pralle Fabulierlust

widmer

Pünktlich zum 75. Geburtstag von Urs Widmer bietet der Band „Gesammelte Erzählungen“ eine Auswahl aus der wundersamen Erzählwelt des Schweizer Schriftstellers.

Der Weltenbummler Egon taucht eines Abends, nach einem langen Aufenthalt in Südamerika, unverhofft bei einem Freund aus Jugendtagen auf. Der Freund (der zugleich der Erzähler dieser Geschichte ist) wohnt ein wenig abseits im Elsass in einem großen Haus, wo er mit seiner Frau und Vertrauten zusammenlebt. Die Hausbewohner heißen den Gast willkommen, machen es sich mit ihm im Saal ihres Hauses, das einst eine Bahnhofswirtschaft war, gemütlich, trinken Wein und beginnen zu erzählen – von der ersten großen Liebe, unerfüllten Leidenschaften und Abenteuern auf Naxos, in Südfrankreich oder Argentinien. Im Laufe der Nacht entwickelt sich ein großer Erzählreigen, der erst zum Ende kommt, als der Morgen an- und der Gast wieder aufbricht: „Wir standen vor dem Haus und sahen zu, wie Egon (…) in die Wiesen hinausging (…), in eine gewaltige Sonne hinein, die eben aus dem Horizont aufstieg.“

Liebesnacht“ heißt dieses fein arrangierte, Lebenslust und Melancholie verströmende Prosawerk, in dem eine Gemeinschaft für eine einzige Nacht beisammensitzt, um einer vergilbten Zeit wieder Farbe einzuhauchen. Zu finden ist diese knapp hundert Seiten lange Erzählung aus dem Jahr 1982 in einem frisch gedruckten roten Leinenband, der auf über 750 Seiten eine Vielzahl von Erzählungen des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer versammelt. Eine seiner bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten, „Der blaue Siphon“ (1992), findet sich zwar nicht in dem Buch, dafür allerdings eine vielfältige Auswahl anderer Erzähltexte aus den Jahren 1968 bis 2010. Den Auftakt bildet Widmers Debüt „Alois“, eine knallige, hin und her hüpfende Erzählung, angereichert mit Motiven aus Comic, Film, Musik und Sport. Bereits hier deutet sich die verspielt fantastische, mit einem leicht ironischen Grundton ausgestattete Erzählweise Widmers an – vielleicht noch ein wenig zu überdreht, indes vor praller Fabulierlust und skurriler Einfälle nur so strotzend.

Nicht mehr ganz so sprunghaft und abstrus geht es in der 1990 veröffentlichten Erzählung „Das Paradies des Vergessens“ zu. Zwar laufen auch hier mehrere Handlungsfäden parallel, doch die Geschichte eines Schriftstellers, dem sein Romanmanuskript abhandengekommen ist und der sich um eine Rekonstruktion bemüht, besitzt in Form wie Sprache klarere Konturen – ohne jedoch Originalität, Verspieltheit oder Witz einzubüßen.

Ob man nun die älteren oder jüngeren Erzählungen Widmers liest, allen haftet – mal mehr, mal weniger ausgeprägt – etwas Märchenhaftes an, das sich mithilfe einer zauberhaften Versponnenheit teilweise gar ins Surreale hineinsteigert. Manchmal überkommt einem beim Lesen von Erzählungen wie „Die Amsel im Regen im Garten“ (1971) oder „Reise nach Istanbul“ (2010) das Gefühl, da wuchern spontane Einfälle wie Kraut und Rüben zu einer krausen Textwildnis zusammen; doch das Famose ist, dieser Wildnis scheint eine geheimnisvolle Komposition innezuwohnen, denn die grotesk anmutenden Wuseleien bezaubern nicht minder als jene, die strukturierter geformt sind.

Urs Widmer nennt sich selbst gern einen „Erzähl-Dichter“, der in seinen eigenwilligen Fabulierwelten durchaus „möglichst viel gesellschaftliche Wirklichkeit spürbar werden lassen“ möchte. Und tatsächlich schimmert hinter jenen Tagtraummärchen, Liebesabenteuern sowie modernen Wild-West-Storys hie und da Zivilisationskritik durch. So heißt es zum Beispiel in der kurzen Erzählung „Der Müll an den Stränden“ (1994): „Wir haben die Taschen voller hochwirksamer Medikamente, mit denen wir das leiseste Unbehagen ins uns auf der Stelle bekämpfen und deren einzige Nebenwirkung ist, dass wir auch ein unverhofftes Glück nicht spüren.“

Nur selten lässt der Schweizer Autor seine Botschaft so deutlich durchblicken, denn moralinsauer sollen seine Texte selbstverständlich nicht klingen: „Ich will nicht einer sein, der mit erhobenem Zeigefinger dasitzt und belehrt.“ Dass er aber durchaus an gesellschaftlichen Prozessen interessiert ist, zeigen die immer wieder auftauchenden satirischen Beschreibungen des Fortschritts. In erster Linie jedoch changieren die Erzählungen Widmers zwischen Lust und Leichtigkeit, Sehnsucht und Schmerz sowie Wildheit und Lebensweisheit. In „Indianersommer“ (1985) erzählt er von den Freuden, Liebschaften und Leiden innerhalb einer Künstlergemeinschaft. Die Maler und Schriftsteller sind Lebenskünstler, die sich in die Kunst und die Liebe stürzen, um nicht vom Lebensschmerz zerrissen zu werden. Sie versuchen darüber hinaus sich ihre Kindheit zu bewahren, jene Zeit, die im Rückblick aufgrund ihrer Unschuld dem Leben im Garten Eden nahekommt: „Natürlich gibt es ein Paradies, die Zeit, in der wir noch nicht entdeckt haben, dass es den Tod gibt.“

Neben der Kindheit findet sich ein weiteres Motiv immer wieder in Widmers Erzählungen: der Vater. Eine Vatergestalt taucht in diversen Rollen in mehreren Erzählungen auf. Urs Widmers Vater war Übersetzer, und ein verhinderter Schriftsteller, der seinen geplanten Roman nie zu Papier brachte. So verwirklichte erst der Sohn den Traum seines 1965 verstorbenen Vaters. Dessen Tod empfindet Widmer rückblickend gar als Initialzündung für sein Schreiben: „Erst als er starb, verwandelte ich mich, fast auf der Stelle, in einen Schriftsteller.“ Und zwar in einen äußerst vielseitigen, denn neben den zahlreichen Erzählungen, Theaterstücken und Essays hat er mehrere Romane sowie eine Vielzahl von Hörspielen verfasst, und darüber hinaus Werke von Raymond Chandler, Joseph Conrad und anderen übersetzt.

Pünktlich zu Widmers 75. Geburtstag am 21. Mai würdigt der Diogenes Verlag – dem Widmer seit 45 Jahren treu ist – mit „Gesammelte Erzählungen“ die Erzählkunst dieses Tausendsassas. Ein schönes Geburtstagsgeschenk für den Autor, und für seine Leser. Auch wir gratulieren!

(16.5.2013)

Urs Widmer: Gesammelte Erzählungen. Diogenes, Zürich. 768 Seiten, 29.90 €.

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