Schlagwort-Archive: Bremer Literaturpreis

Literarisches Kuriositätenkabinett

In seinem aktuellen Buch lässt der Österreicher Clemens J. Setz seine gesammelten Texte für sich sprechen

Er ist vermutlich einer der eigenwilligsten jüngeren Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – der Österreicher Clemens J. Setz. Nach eigener Aussage war er als Teenager ein kompletter Computer-Nerd, der irgendwann vom exzessiven Zocken am PC zum exzessiven Lesen von Büchern übergangen ist – und darüber dann zum exzessiven Schreiben von Texten. Das vorläufige Ergebnis sind neben einigen kleineren Werken, je ein Gedicht- und Erzählungsband sowie vier Romane, für die er einige renommierte Preise eingeheimst hat – unter anderem den mit 20.000 Euro dotierten Bremer Literaturpreis (2010) und den mit 30.000 Euro dotierten Wilhelm-Raabe-Literaturpreis (2015). Das kann sich sehen lassen für einen, der als 35-Jähriger unter Literaturmaßstäben eigentlich noch unter der Kategorie Nachwuchsschriftsteller läuft.

Eine Italienerin fragte mich nach der Lesung, ob ich ihr einen Tipp geben könne, ihr Freund sei genauso wie ich, so semi-autistisch und beschäftigt mit sonderbaren Projekten, aber das gefalle ihr jetzt nicht mehr, wie könne sie ihn verändern. Ich wusste nichts.“

Zudem ist es bemerkenswert, da das Werk von Setz nicht immer leicht zugänglich ist. Sein für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman „Indigo“ (2012) zum Beispiel ist ein zwar durchaus genial komponiertes Werk, allerdings gespickt mit grotesken Einfällen und insgesamt in seiner labyrinthischen Erzählstruktur stellenweise recht rätselhaft. In seinem fantastischen Erzählungsband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ (2011) hingegen wimmelt es nur so von Momenten des subtilen Horrors und Ekel-Szenen. Dennoch wurde das Werk aufgrund seiner Originalität und stilistischen Brillanz vollkommen zurecht mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Dass sein letzter und bisher bester Roman, „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ (2015), von einigen Literaturkritikern als „literarisches Meisterwerk“ gefeiert wurde, sei hier nur nebenbei bemerkt.

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Eingeordnet unter Bücher 2018

Überall die Sonne

Thomas Lehr fokussiert in seinem kunstvollen Erzählpanorama „Schlafende Sonne“ einen Tag und zugleich ein ganzes Jahrhundert

Dieses Buch scheint eine Zumutung zu sein. Über 630 eng bedruckte, absatzlose Seiten voller Perspektivwechsel und assoziativer Sprünge zwischen verschiedenen Zeitebenen. Doch wenn man die ersten 30 bis 40 Seiten bewältigt hat, beginnt der Roman plötzlich einen Sog zu entwickeln – und zwar durch die Biografien, die sich allmählich in diesem dichten Textgewebe entfalten. Da ist zum einen die Lebensgeschichte der Künstlerin Milena Sonntag, die im Berlin des Jahres 2011 ihre große Ausstellung „Schlafende Sonne“ eröffnet. Diese Vernissage ist nicht nur ein besonderes Ereignis im Leben von Milena, sondern vor allem der Ausgangspunkt für alle weiteren Erzählstränge, denn in einer Art Retrospektive blickt die erfolgreiche Künstlerin zurück auf ihr Leben. Unterwegs zu der Ausstellungseröffnung, die im Morgengrauen stattfindet, ist auch Milenas Mann Jonas, ein Solarphysiker, der sein Leben der Erforschung der Sonne gewidmet hat.

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Eingeordnet unter Bücher 2017

Möchtegern-Weltverbesserer

In Andreas Stichmanns zweitem Roman werkelt eine schrullige Truppe an neuen Utopien

Der Sonnenhof in Hamburg-Osdorf ist eine Art verblichener Utopie. Anfang der 80er als Kommune am Rande der Großstadt gegründet – von Ingrid, ihrem tunesischen Lebenspartner und ihren Hippie-Freunden. Mittlerweile ist von den Gründungsmitgliedern nur noch Ingrid übrig, die sich allerdings nicht mehr besonders um das Schicksal des Hofs schert. Das hat stattdessen ihr 35-jähriger Sohn Ramafelene übernommen, der als Sozialarbeiter den Laden mehr schlecht als recht am Laufen hält und sich um die beeinträchtigten Bewohner kümmert. Sein alter Kumpel Küwi ist ihm dabei kaum noch ein Hilfe, dafür neuerdings die 17-jährigen Bibi, die ihre Sozialstunden auf dem Hof ableistet und Ramafelene den Kopf verdreht.

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Eingeordnet unter Bücher 2017

Italienische Affären

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Marlene Streeruwitz schickt ihre Heldin für ein Abenteuer nach Italien

Italien ist nach wie vor ein beliebter Schauplatz literarischer Werke. Nicht nur die beiden Protagonisten der frisch mit dem Deutschen Buchpreis prämierten Novelle „Widerfahrnis“ brechen zu diesem Sehnsuchtsort auf, sondern auch die titelgebende Heldin in Marlene Streeruwitz’ Roman „Yseut“. Die Endsechzigerin quartiert sich in einer norditalienischen Villa ein, in der einst Byron gewohnt haben soll. Von dort aus möchte die aus Wien stammende Linguistin einige Drehorte von Antonioni-Filmen abklappern, findet dafür indes nur wenig Zeit. Kaum ist sie in der Villa angekommen, ist sie mit regionalen Machtkämpfen konfrontiert, die im Umkreis der Villa ausgetragen werden. Welche Rolle dabei die Contessa spielt, die das Hotel in der Villa betreibt, bleibt ihr rätselhaft. Genauso rätselhaft wie die Motive des knapp 20 Jahre jüngeren Mafiosos, der trotz seiner brutalen Ausstrahlung, mit allerlei Avancen um Yseut wirbt.

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Leben in Trümmern

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Der Schriftsteller Thomas Melle ist manisch-depressiv und erzählt in „Die Welt im Rücken“ mit brutaler Offenheit von den Konsequenzen seiner Krankheit

Die Geschichte des 41-jährigen Schriftstellers Thomas Melle ließe sich spielend leicht als Erfolgsstory erzählen. Melle ist ein geschätzter Übersetzer, gefeierter Theaterautor und prämierter Romancier. Sein Debüt, der Erzählungsband „Raumforderung“ (2008), wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet, sein erster Roman, „Sickster“ (2011) stand auf der Longlist und sein zweiter Roman „3000 Euro“ (2014) auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zudem sind beide Romane auch als Bühnenfassungen in zahlreichen Theatern zu sehen gewesen. Und in diesem Jahr stand der gebürtige Bonner, der bereits seit vielen Jahren in Berlin lebt, mit seinem neuen Werk, „Die Welt im Rücken“, erneut auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und galt bei vielen Kritikern als Favorit auf die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung, die immer zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse verliehen wird (gewonnen hat den Preis aber mit Bodo Kirchhoff wieder einmal ein anderer).

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Eingeordnet unter Bücher 2016

Der Fallensteller von Fürstenfelde

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Sein Debüt wurde 2006 vielfach bejubelt und sogleich mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet, sein zweiter Roman vor zwei Jahren mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämiert – jetzt legt Saša Stanišić mit einem Erzählungsband („Fallensteller“) nach, in dem der 38-Jährige erneut untermauert, dass er erzähltechnisch einiges drauf hat.

VON JENS LALOIRE

Plötzlich ist er da, dieser sonderbare Fremde, steht in seiner altmodischen Kluft vor Ullis Garage, in der sich die Pilstrinker von Fürstenfelde ihr Feierabendbier genehmigen. Die Garage ersetzt die Kneipe, weil in dem Dorf „nirgends sonst Sitzgelegenheiten und Lügen und ein Kühlschrank so zusammenkommen, dass es für die Männer miteinander und mit Alkohol schön und gleichzeitig nicht zu schön ist“. Dafür, dass es nicht zu schön ist, sorgen unter anderem die Ratten, die sich gelegentlich in der Garage blicken lassen und derentwegen der Fremde nun mit Koffer und Käfig vor den argwöhnisch dreinblickenden Männern dasteht. Obwohl ihn niemand darum gebeten hat, verspricht der Fremde, der sich als Fallensteller vorstellt, die Lösung des Rattenproblems. Aller anfänglichen Skepsis zum Trotz lassen die Fürstenfelder den leicht antiquiert daherpalavernden Kerl gewähren und werden dafür sogleich mit dem ersten Rattenfang belohnt. Vor ihren Augen schlüpft eine Ratte aus ihrem Versteck und rennt schnurstracks in die Falle, die der Fremde gerade erst aufgestellt hat. Die Männer staunen und der Rattenfänger verabschiedet sich, ohne einen Lohn zu verlangen, samt Beute in den Abend – und steht wenige Minuten später bei der Bäckerin Angela Zieschke vor der Tür, um sich in ihrer Einliegerwohnung als Untermieter einzuquartieren.

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Eingeordnet unter Bücher 2016

Sprachexpressive Dystopie

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In seinem Roman „Nichts von euch auf Erden“ überrascht Reinhard Jirgl zwar mit einem düsteren Science-Fiction-Szenario, zeigt sich jedoch einmal mehr als experimentierfreudiger Sprachkünstler.

Das Universum ist ein Sehnsuchtsraum, der die Fantasie des Menschen beflügelt und ihn von abenteuerlichen Expeditionen in ferne Galaxien träumen lässt. In der Realität ist die Menschheit indes weit davon entfernt, mit bemannten Raumschiffen die Weiten des Weltalls zu bereisen oder auf anderen Planeten Kolonien zu gründen. In 500 Jahren allerdings dürfte die Raumfahrt etwas weiter sein. Pioniere der Weltraumforschung könnten vom Mars Besitz ergriffen haben und daran arbeiten, den Roten Planeten mithilfe der Wissenschaft in eine neue Erde zu verwandeln.

Dieses Szenario zeichnet zumindest Reinhard Jirgl in „Nichts von euch auf Erden“. Der 1953 in Ost-Berlin geborene Schriftsteller ist bisher nicht im Science-Fiction-Genre in Erscheinung getreten, und sein neuer Roman lässt sich dieser Gattung auch nur bedingt zuordnen – er steht vielmehr in der Tradition des Alten Testaments, der klassischen Sagen der Antike oder anderer mythischer Epen. Und wie jedes große Epos sich durch seine Sprache auszeichnet, hat auch Jirgl für sein Werk eine besondere Sprachform entwickelt, die sich sowohl in der Redeweise der handelnden Personen als auch in der Orthografie, Zeichensetzung und Grammatik von unserem herkömmlichen Deutsch unterscheidet. Dieser expressive Schreibstil kennzeichnet bereits andere Bücher Jirgls und wurde in den letzten Jahren vom Feuilleton gefeiert sowie mit zahlreichen Auszeichnungen honoriert (unter anderem mit dem Georg-Büchner-Preis 2010 und dem Bremer Literaturpreis 2006).

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Provinzzombies

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In seinem Roman „Glantz und Gloria“ erzählt der aktuelle Bremer Literaturpreisträger Henning Ahrens eine herrlich durchgeknallte Story

Der deutsche Provinz-Mob ist eine Art Zombie-Musicalchor. Zumindest in Glantz, einem konservativen Kaff, das im Tal eines fiktiven Mittelgebirges namens Düster liegt und dessen Einwohner keine Fremden mögen. Dieses Glantz im Düster ist der Schauplatz von Henning Ahrens Roman „Glantz und Gloria“, für den der 51-jährige Schriftsteller just mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde.

Ahrens erzählt in seinem vierten Roman die Geschichte von Rock Oldekop, der in seinen Geburtsort zurückkehrt, um Klarheit über seine Vergangenheit zu erlangen. Als Fünfjähriger hatte er die Heimat verlassen, da das Elternhaus abgebrannt und die Eltern bei dem Brand umgekommen waren. Knapp 40 Jahre später kehrt er zurück in dieses Provinznest, das ihm mittlerweile fremd ist und ihn wie einen Fremden empfängt. Da trifft es sich eigentlich ganz gut, dass er abseits des Dorfes in der alten Mühle Unterschlupf findet – und zwar bei Landauer, einem Zugezogenen, der vor Jahren die Mühle gekauft hat, aber von den Einheimischen nie als Ihresgleichen akzeptiert wurde. Im Gegenteil: Die Glantzer wollen den Eindringling unbedingt loswerden, denn der ist nicht nur der Herkunft nach fremd, sondern außerdem ein Öko-Selbstversorger und militanter Vegetarier, der seinem Gast gleich in der ersten Nacht aus der Hand liest.

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Eingeordnet unter Bücher 2015

So jung kommen wir nicht mehr zusammen

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Im Rahmen der 40. Literarischen Woche Bremen lesen vom 18. bis 26. Januar nicht nur der Buchpreisträger Frank Witzel und der Preisträger des Bremer Literaturpreises Henning Ahrens, sondern insgesamt ein knappes Dutzend Schriftsteller*innen. Und mit Janko Marklein, Fabian Hischmann und Antonia Baum stellen gleich drei jüngere Autor*innen in einer gemeinsamen Lesung am 26. Januar ihre Coming-of-Age-Romane in der Bremer Stadtwaage vor.

Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ ist der skurril ausschweifende Titel des Romans, mit dem Frank Witzel im vergangenen Jahr den Deutschen Buchpreis absahnte. Darin entfaltet Witzel auf 800 Seiten den irrwitzigen Kosmos eines 13-Jährigen, der Ende der 60er in der BRD nicht nur mit den Geschichten der RAF-Terroristen aufwächst, sondern von ihnen geradezu besessen scheint und auch bleibt, als er älter wird. Dass das Erwachsenwerden mit einer solchen Obsession nicht unbedingt einfacher wird, kann man sich vorstellen, und somit passt das Werk, aus dem Witzel am 21. Januar in der Stadtbibliothek lesen wird, perfekt zum Motto der diesjährigen Literarischen Woche. „Generation im Aufbruch. Von der Schwierigkeit des Erwachsenwerdens“ lautet das Motto, unter dem die 40. Ausgabe des traditionsreichen Literaturfestivals steht.

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Eingeordnet unter ältere Bücher, Bücher 2015, Bremen

4 – Ein Sammelsurium von Seitenpfadexkursionen

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In „Putins Briefkasten“ verwebt der Schriftsteller und Kleist-Preisträger Marcel Beyer in acht verspielten Essays virtuos Denkbilder über das Dichten mit Ausflügen nach Brixton, in die Imkerei, die Vogelkunde und Wladimir Putins Dresdener Vergangenheit

Was haben Marcel Proust, der VW Phaethon und eine Katze in Vilnius gemeinsam? Die Antwort: Sie alle finden Platz in „Putins Briefkasten“, einem Büchlein des Lyrikers, Essayisten und Romanciers Marcel Beyer. Der 1965 in Baden-Würtemberg geborene und seit knapp 20 Jahren in Dresden lebende Schriftsteller hat mit Gedichten seine literarische Karriere begonnen, ist mit Romanen wie „Flughunde“ (1995), „Spione“ (2000) und „Kaltenburg“ (2008) bekannt geworden und hat sich dann einige Jahre vor allem dem Verfassen von Opernlibretti zugewandt. 2014 legte Beyer nach 12 Jahren Auszeit mit „Graphit“ endlich wieder einen Gedichtband vor, für den er im Feuilleton mehrheitlich gefeiert und unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Nicht ganz so viel Beachtung hatte die Öffentlichkeit zwei Jahre zuvor einem Taschenbuch geschenkt, das weder Gedichtband noch Roman ist, sondern eine Sammlung von „Acht Recherchen“, denen verschiedene Beiträge zugrunde liegen, die der Joseph-Breitbach-Preisträger (2008) für Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbände verfasst hat.

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Eingeordnet unter ältere Bücher