Archiv der Kategorie: Bücher 2015

Gramsci auf den Fersen

Bossong

Anfang Juli rückte die 1982 in Bremen geborene und in Berlin lebende Nora Bossong ohne ihr Zutun beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in den Fokus der literarischen Öffentlichkeit. Die Autorin selbst war zwar gar nicht beim Wettlesen in Klagenfurt dabei, doch die Schriftstellerkollegin Nora Gomringer hatte sie zur Protagonistin ihres (später mit dem Bachmannpreis prämierten) Textes gemacht. So schnell kann es gehen, dass man als real existierendes Individuum zur literarischen Figur wird. In der Umwandlung realer Personen zu literarischen steht Nora Bossong ihrer Namensvetterin allerdings in nichts nach – in ihrem aktuellen Roman spielt ebenfalls eine aus der Realität entliehene Person die zentrale Rolle.

„36,9°“ ist der inzwischen vierte Roman der Absolventin des Leipziger Literaturinstituts, die 2001 mit dem Bremer Autorenstipendium, 2007 mit dem Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis, 2011 mit dem Kunstpreis Berlin und 2012 für ihren zweiten Gedichtband „Sommer vor den Mauern“ mit dem renommierten Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet worden ist. Bossong ist also nicht bloß Gegenstand der Literatur (im Text ihrer Kollegin), sondern mischt selber munter mit im Kulturbetrieb – im Gegensatz zu der historischen Hauptfigur ihres Romans, die das Mit- und Einmischen bedauerlicherweise schon hinter sich hat. Die Rede ist vom bereits vor knapp 80 Jahren verstorben Philosophen, Autor und Politiker Antonio Gramsci (1891-1937), dessen Gefängnishefte nach wie vor als bedeutende Dokumente marxistischer Theorie gelten.

Weiterlesen

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Bücher 2015

Mann in der Krise

peltzer

In Ulrich Peltzers Roman „Das bessere Leben“ gibt die Krise den Ton an und lässt die erfolgsverwöhnten Protagonisten darüber sinnieren, ob ihr Leben nicht auch komplett anders hätte verlaufen können.

Als Teenager in den 70ern war Jochen Brockmann das, was manche damals einen Halbstarken nannten – Schule schwänzen, Dope in Venlo kaufen und in fetten Joints verarbeitet durchziehen, bekifft in der Stadt abhängen, öffentlich billigen Wein trinken und die aufgerauchten Kippenstummel lässig in hohem Bogen auf den Bürgersteig schnippen und damit auf das Spießbürgertum spucken. Das war früher! Mittlerweile arbeitet der 51-Jährige seit 14 Jahren als Sales Manager für die italienische Maschinenbaufirma Basaldella, jettet durch die Welt, nächtigt in edlen Hotels, handelt Millionenverträge aus und verdient dabei so gut, dass er sein Schwarzgeldkonto in Zürich fleißig füttern und seine Sammlung von Hockney-Zeichnungen Stück für Stück erweitern kann.

Weiterlesen

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Bücher 2015

Gestrandet am Rande eines Kuhdorfs

knecht2

Doris Knecht erzählt von der Flucht einer gescheiterten Geschäftsfrau

Die Weltwirtschaftskrise hat seit 2007 manche Erfolgsstory in ihre Einzelteile zerlegt. Auch für Marian Malin, der Protagonistin in Doris Knechts neuem Roman „Wald“, geht es plötzlich nicht mehr wie bisher steil bergauf, sondern rasant bergab. Als Modedesignerin hat die Selfmade-Frau Kleider für die besser betuchten Damen entworfen und genäht; doch dann kracht die Krise in ihre kühl kalkulierte Karriere, und zwar dummerweise zu einem Zeitpunkt, als die ehrgeizige Geschäftsfrau gerade dabei ist zu expandieren und ihr potenzieller Gatte sich von ihr verabschiedet.

Weiterlesen

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Bücher 2015

Jugend ohne Staat

Peter Richter

Peter Richter erzählt von einer DDR-Jugend während der Wendejahre

Wenn dir ein paar Neonazis die Fresse polieren, ist es dir wahrscheinlich egal, dass du gerade mittendrin bist in einer historischen Epochenwende. So zumindest ergeht es dem namenlosen Erzähler in Peter Richters Roman „89/90“ am Silvesterabend des Jahres 1989. Gerade noch hat er einen desaströsen Auftritt mit seiner Punkband „Die Faschisten“ hinter sich gebracht, als echte Faschos die Silvesterparty in der „Pisse“, einem besetzen Haus im Dresdner Stadtteil Pieschen, stürmen und für Prellungen, blaue Augen und blutende Nasen sorgen.

Weiterlesen

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Bücher 2015

Ein Freund Benjamins

Anne Weber

Anne Weber spürt ihrem Urgroßvater nach

Nicht jeder vermag, wenn er seinen Stammbaum entfaltet, auf einen Vorfahren verweisen, der mit Walter Benjamin, Martin Buber und Hugo von Hofmannsthal befreundet war. Die deutsch-französische Schriftstellerin Anne Weber hat mit Florens Christian Rang indes tatsächlich einen Urgroßvater, der mit diesen Geistesgrößen rege verkehrt hat. Was läge da näher, als hinabzutauchen in die Familiengeschichte, um zu ergründen, wer genau dieser Mann war?

Weiterlesen

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Bücher 2015

Spuren von Schönheit

Rothmann

Es sind immer noch überraschend wenige Leser, denen der Name Ralf Rothmann ein Begriff zu sein scheint, dabei ist der 62-Jährige einer der begnadetsten Erzähler, den die deutsche Literatur zu bieten hat. Das beweist er erneut in seinem aktuellen Roman „Im Frühling sterben“. Darin erzählt er die dramatische Geschichte einer Freundschaft während der letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs.

Kein Krieg ohne Milch!“ lautet die Parole von Klaas Thamling, wobei der Milchbauer selbst wohl gut auf den Krieg verzichten könnte. Wie so einige aus der Zivilbevölkerung hofft er im Frühjahr 1945 insgeheim auf die Ankunft der Alliierten und ein Ende des Krieges. Da ihm selbst noch das letzte große Gemetzel in den Knochen steckt, würde er seinen Melkergesellen Walter und Fiete gerne dergleichen ersparen. Doch auf einer Tanzveranstaltung im Dorflokal werden die beiden 17-jährigen Freunde zwangsrekrutiert und nach einer dreiwöchigen Express-Grundausbildung aus der norddeutschen Provinz Richtung Süden geschickt, nach Ungarn, an die Front. Dort wird Walter als Fahrer einer Versorgungseinheit der Waffen-SS eingesetzt. Obwohl alles andere als ein überzeugter Nazi oder begeisterter Soldat, geht er gewissenhaft seiner Arbeit nach, in der Hoffnung, das Ganze heil durchzustehen. „Davonkommen wollte ich“, erzählt er später, nach seiner Heimkehr, seiner Freundin Elisabeth. „Einfach nur durchstehen, den Wahnsinn.“

Weiterlesen

Ein Kommentar

Eingeordnet unter Bücher 2015

Elektrokratie DDR

100_7577

Thomas Brussig streicht die Wiedervereinigung

Die Idee ist nicht neu, schon Simon Urban hat vor knapp vier Jahren in seinem satirischen Politthriller „Plan D“ ein Szenario entworfen, in dem die DDR weiterexistiert. Nun legt der 1964 in Ost-Berlin geborene Thomas Brussig mit einer fingierten Autobiografie nach und erzählt von seinem Leben als berühmter Schriftsteller in der Deutschen Demokratischen Republik, die nicht nur keine Wiedervereinigung erlebt hat, sondern mithilfe ihrer Vormachtstellung in der Entwicklung von Elektroautos sowie Windenergie „den Lebensstandard der Kuwaitis und den Staatshaushalt der Norweger“ anstrebt. Im Jahr 2014 gibt es in DDR zwar immer noch keine freien Wahlen, jedoch eine „Elektrokratie“, die ihre Bevölkerung mit Geld besticht.

Weiterlesen

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Bücher 2015

Vogelschau zwischen Raketenangriffen

Norbert Scheuer

Norbert Scheuer gelingt ein unaufgeregter Afghanistanroman

Tiere spielen im Werk des Schriftstellers Norbert Scheuer eine zentrale Rolle. Bachforellen, Hechte, Schleien und viele andere Fische tummeln sich in seinem äußerst lesenswerten Roman „Überm Rauschen“, der 2009 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. In seinem neuen, in diesem Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman „Die Sprache der Vögel“ sind es hingegen Kiebitze, Kolkraben, Goldammern und über ein Dutzend weiterer Vogelarten, die nicht nur den Text durchziehen, sondern zudem als Kaffeeaquarellzeichnungen im Buch abgebildet sind.

Weiterlesen

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Bücher 2015

Die Trauer der Buchmessen

brandt1

Vom Aufenthalt eines Autors im Ausland erzählt Jan Brandt

Nach seinem famosen Debüt „Gegen die Welt“ hat man nicht mehr viel vom Schriftsteller Jan Brandt gehört. Bis auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises und auf Platz 35 der Spiegel-Bestsellerliste hatte er es 2011 mit dem 900-Seiten-Wälzer geschafft, doch danach folgten keine weiteren Bücher. Jetzt hat der 1974 in Leer geborene Brandt endlich nachgelegt, allerdings mit einem Werk, das sich schwer einordnen lässt. Der studierte Journalist berichtet in „Tod in Turin“ von seinen Lesereisen, einem Aufenthaltsstipendium in London und von drei Tagen, die er in Turin auf der Buchmesse verbracht hat, um dort die italienische Übersetzung seines Erstlings zu präsentieren.

Weiterlesen

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Bücher 2015