Archiv der Kategorie: Schnipsel

Unreparierbare Jahressplitter – IX

Eine Schnipsel-Melange – September

Stadtbibliothek – Schulze weiß Bescheid

Auf dem Weg zur Arbeit in der Stadtbibliothek. Leicht abgehetzt schließe ich mein Rennrad am Fahrradbügel an, haste Richtung Wallsaal-Eingang und erblicke auf den Stufen vor dem mächtigen Holzportal Ingo Schulze, der dort bereits zu warten scheint und mir zulächelt, als er mich sieht, mir die Hand entgegenstreckt und sagt: „Hallo, da sind Sie ja.“

Ich stutze, da ich zwar natürlich weiß, wie Ingo Schulze aussieht, aber warum weiß Ingo Schulze, wie ich aussehe, wenn wir uns niemals zuvor begegnet sind.

Hallo“, sage ich. „Wieso erkennen Sie mich?“

Ach, ich habe irgendwo Ihr Foto gesehen.“

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Unreparierbare Jahressplitter – VIII

Eine Schnipsel-Melange – August

Herrndorf-Ausstellung – Flohwitz aus Damenmund

Sitze – nach dem Besuch der Wolfgang-Herrndorf-Ausstellung – in der Stader Altstadt im Vorgarten eines Cafés unter einem Sonnenschirm, esse Apfelkuchen, schlürfe Milchkaffee und blättere im Ausstellungskatalog des verstorbenen Malers und Schriftstellers. Plötzlich steht eine ältere, vornehm gekleidete Dame vor meinem Tisch, schaut kurz gen Himmel und fragt mich dann:

Regnet es oder regnet es nicht?“

Es nieselt wohl“, antworte ich.

Na dann“, sagt die Dame, lächelt verschmitzt, schaut erneut kurz zum Himmel hoch und fragt:

Sie kennen doch den Witz mit den zwei Flöhen?“

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Unreparierbare Jahressplitter – VII

Eine Schnipsel-Melange – Juli

Hinter dem Schilf – Lektüredosis & Aquazentauren

Zu Füßen des Huckelrieder Friedhofs schlummere ich am Deich auf dem Ufergrün des Werdersees beim Sinnieren über einen Satz* aus Stephan Thomes „Fliehkräfte“ langsam ein, entschwinde in eine Traumwelt, in die sich Krähenkrächzen, Entengeschnatter und das Triebwerkgrollen aufsteigender Passagiermaschinen mischen, ohne mich zu wecken; erst die von lauten Rufen begleiteten Planschgeräusche zerren mich schließlich aus meinem Nickerchen-Kosmos zurück in die Wirklichkeit jenes Sommerabends.

Ich reibe mir die Augen, blicke mich um und erspähe hinter dem Schilf eine Horde von Aquazentauren auf dem See – behelmte Kreaturen, die auf ihrem schwimmenden Rumpf mit einem Paddel bewaffnet einer neongelben Kugel hinterherjagen.

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Unreparierbare Jahressplitter – VI

Eine Schnipsel-Melange – Juni

poetry on the road – Enzensberger im Klo

In der Pause der Eröffnungsgala von Poetry on the road im Bremer Theater wird die Toilettentür von außen geöffnet, der über 80-jährige Hans Magnus Enzensberger steckt seinen Kopf rein, fragt, ob sich jemand hier auskenne und wisse, wo der Raucherraum sei. Die Toilettenbesucher starren in das bekanntes Gesicht und schütteln ihre Köpfe.

Drei Minuten später steht der Schriftsteller draußen im Eingangsbereich vor dem Theater, eine Zigarette zwischen den Lippen, die ein zufriedenes Lächeln formen.

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Unreparierbare Jahressplitter – V

Eine Schnipsel-Melange – Mai

Lesung im Hinterraum – Fenster-auf-Fenster-zu-Performance

Punkt elf an einem Samstagmorgen im Mai. Nach etlichen trüben Tagen hat der Wind endlich das norddeutsche Wolkengrau zur Seite gewischt. Überall reinstes Himmelblau, über dem die pralle Gelbe strahlt. Genau das richtige Wetter, um am Hafen über die Promenade zu spazieren oder sich irgendwo hinzufläzen, sich die Bäckchen zu bräunen und die Seele baumeln zu lassen. Dummerweise habe ich eine Lesung in einem kleinen, leicht stickigen Hinterraum mit etwa 25 Stühlen, von denen sieben belegt sind.

Zum Glück werde ich nicht nach Zuhörern bezahlt, das wäre ärgerlich; da ich aber gar nicht bezahlt werde, gibt´s keinen Grund zum Ärgern, nur Anlass zum Grübeln, warum ich das eigentlich mache.

Aber egal, jetzt bin ich hier, und immerhin sieben Leute verzichten eine Stunde lang auf die Sonne, um mir zuzuhören. Immerhin.

Also, machen wir das Beste draus!

Gerade als ich mit meiner Begrüßung fertig bin und mit dem ersten Text beginnen möchte, fragt eine Frau aus der vierten Reihe, ob ich das Fenster schließen könnte, da sie schlecht höre und die Verkehrsgeräusche von draußen zu laut wären.

Das leuchtet mir ein, auch wenn die Luft im Raum nicht ganz so prima ist; doch bevor ich das Fenster schließen kann, erhebt ein Mann, der mit neongelber Windjacke gekleidet in der ersten Reihe neben dem Fenster sitzt, Einspruch. Ihm sei es viel zu warm hier drinnen, daher solle das Fenster bitte offenbleiben.

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Unreparierbare Jahressplitter – IV

Eine Schnipsel-Melange – April

Zwischen den Stapeln – Walter Benjamins Marie Huana

In einem Antiquariat in der Konstanzer Altstadt ist der Händler komplett im Verkaufsmodus und offeriert mir, während ich bei den Taschenbüchern stöbere, einen bunten Strauß an Empfehlungen – Donna Leon (sein absoluter Geheimtipp), Martin Suter (könne man immer lesen), Hermann Hesse (sei nach wie vor aktuell) oder Kafka (wie wäre es mit Kafka?). Irgendwann bietet er mir – wie anscheinend jedem, der in den Laden kommt – einen Ziegelstein von einem Buch an, das wohl ein historischer Roman über Konstanz zu sein scheint (ganz fabelhaft, habe er gerade selbst gelesen).

Auch einen Flyer zu dem in zwei Wochen stattfindenden Büchermarkt drückt er mir in die Hand, und als ich nach einer guten Viertelstunde immer noch nichts gefunden habe, will er mir ein Taschenbuch vom Stapel schenken (irgend so einen dicken Schinken); also greife ich mir rasch Walter Benjamins „Über Haschisch“, das ich bereits vor ein paar Minuten in den Händen hatte, und sage: „Das nehme ich!“.

Er nimmt es mir aus der Hand, blättert darin und sagt: „Sie hieß Marie, mit Nachnamen Huana.“

Er grinst mich an, ich blicke fragend zurück.

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Unreparierbare Jahressplitter – III

Eine Schnipsel-Melange – März

Buchmesse – Die ewige Wiederkehr der Nichtleser

Ankunft in Leipzig. Vor dem Bahnhof scheint mir die Mittagssonne ins Gesicht. Buchmessevorfreude. An der Ampel vor der Straßenbahnhaltestelle steht eine junge Frau und verteilt kostenlos kleine gelbe Büchlein. Eines davon hält sie dem Mann vor mir hin.

Der schüttelt den Kopf, sagt: „Nein danke, ich lese nicht!“, und geht weiter.

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Unreparierbare Jahressplitter – II

Eine Schnipsel-Melange – Februar

Telefon – Top News an den falschen Kontakt

An einem Montagabend blättere ich in Uwe Timms „Von Anfang und Ende“ und bleibe an einem Satz* hängen, als das Handy summt – die Kurznachricht eines Bekannten, mit dem ich weder verabredet bin, noch regelmäßig Befindlichkeiten austausche: „Amore, bin im Mono versackt“!

Soso, denke ich und schreibe zurück: „Gut zu wissen. Schönen Abend noch, und trink nicht mehr so viel!“

Zwei Minuten später kommt die Antwort: „Sorry, vollkommen wrong. Falscher Kontakt, und außerdem bin ich im Gondi“.

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Unreparierbare Jahressplitter – I

Eine Schnipsel-Melange – Januar

Offene Bühne – Unterhaltung vor dem Untergang

Am Anfang war die Apokalypse. Kann man ein Jahr so eröffnen? Mit Texten zum Weltuntergang? Texte, die ihn heraufbeschwören, feiern, ausmalen oder sich über ihn lustig machen?

Man kann. Man kann es zumindest versuchen – vor allem, wenn zufälligerweise genau an jenem Tag ein Donald als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wird. Wann, wenn nicht jetzt!

Die Bühne im Kukoon steht allen offen – genau genommen 13 Autorinnen und Autoren, die sich rechtzeitig anmelden. Ein bärtiger Herr tritt eine Dreiviertelstunde vor Veranstaltungsbeginn auf mich zu, ein handgroßes Holzkreuz ziert seine Brust.

Er wolle sich für die Offene Bühne anmelden.

Ja, gern, sage ich und frage ihn, was er denn lesen wolle?

Einen Auszug aus der Offenbarung des Johannes.

Hm. Das haben Sie vermutlich nicht selbst geschrieben, oder?

Nein!, sagt er, das sei das Wort Gottes.

Ja eben, sage ich.

Wie jetzt?, fragt er.

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Jonglier-Intervention

Straßenszene. Breitenweg, Ecke Hillmannstraße. Als die Ampel auf Rot springt und die Autos, die aus Richtung Utbremen herangerauscht kommen, halten müssen, rennen drei junge Männer auf die zweispurige Straße, positionieren sich vor den Autos und jonglieren für einige Sekunden – der eine mit Bällen, der zweite mit Keulen und der dritte mit einem Diabolo.

Eine knappe, präzise Choreografie auf dem Asphalt unter der Hochstraße; dann verbeugen sich die drei kurz, nehmen ihre Mütze ab und huschen damit rasch zwischen die Autos, um sie den Fahrern wie Klingelbeutel hinzuhalten. Einige kurbeln ihre Fenster runter, lassen Münzen in die Mützen fallen, andere zucken nur mit den Schultern oder hupen.

Als die Ampel auf Grün springt, hechten die drei zur Seite, zählen rasch ihre Einnahmen, stecken die Münzen in ihre Hosentaschen, ziehen sich die Mützen wieder über und springen erneut auf die Straße, als die nächsten Autos vor der Ampel halten …

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