Dieser Text, der das Verhältnis zwischen Bremer Neustadt und Viertel reflektiert, hat inzwischen ein paar Jahre auf dem Buckel. Mehrere Male habe ich ihn öffentlich gelesen und immer wieder haben vereinzelte Zuhörer*innen ihn als eine Art Dissen des Viertels und der Viertellinis** verstanden. Das ist natürlich ein Missverständnis, denn in Wahrheit ist der Text* eine große Liebeserklärung, nicht nur an die Neustadt, sondern eben auch ans Bremer Viertel. Gerade in der aktuellen Situation, in der Kneipen, Klubs und subkulturelle Nischen durch die Folgen der Corona-Pandemie in ihrer Existenz bedroht sind, will ich nochmal betonen, dass Bremen ohne einige der im Text genannten Orte, die unmittelbar mit dem Ostertorsteinviertel verknüpft sind, um einiges ärmer wäre. Umso wichtiger, dass diese Orte erhalten bleiben!
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Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen
Der (Wieder)Aufbau einer Mauer, aus Teilen der Berliner Mauer, allerdings nicht in Berlin, sondern in Bremen – und zwar als ein Kunstprojekt, das vielleicht doch vielmehr ist als bloße Kunst. Das war die Ausgangsidee für meinen Text, den ich für die Literarische Woche 2009 zum Thema „Mauerfälle“ geschrieben und im Rahmen der Literarischen Woche im Bremer Kulturzentrum Lagerhaus gelesen habe. Es treten auf: Bremer Neustädter, Michail Gorbatschow, Helmut Kohl, Wachtruppen, Bremer Senatoren, ein Künstler, ein Stockentenpaar.
Der Lesung vorausgegangen war eine Ausschreibung des Bremer Literaturkontors, in der junge Autor*innen aus Bremen dazu eingeladen wurden, Texte zum Thema „Mauerfälle“ zu schreiben. Eine Freundin hatte mich darauf hingewiesen, und tatsächlich schrieb ich einen Text, den ich am letzten Tag der Bewerbungsfrist persönlich im Literaturkontor ablieferte. Ich erinnere mich noch ganz gut an die Szene: Es muss Anfang November gewesen sein – es herrschte trübstes Bremer Schmudelwetter –, als ich, eingepackt in meinem alten BW-Parka, in der Villa Ichon an die Tür des Kontors klopfte, eintrat, „Hallo“ sagte, der Geschäftsführerin Angelika Sinn den Umschlag mit meinem Text in die Hand drückte und ruckzuck wieder verschwand.
NEO – Magazin für urbanes Leben
„Bremens größter Stadtteil, die Neustadt, wird zu einem Ort, in dem das Leben tief durchatmet. Ideen sprießen, neue Läden, Bars und Restaurants eröffnen, und der Stadtteil wird zum urbanen Raum. Die unterschiedlichsten Menschen suchen ihr Glück links der Weser. Die Gentrifizierung schreitet voran. Noch nimmt die Subkultur sich ihren Raum. Manche befürchten, dass Alteingesessene durch erhöhte Mieten verdrängt werden könnten – andere hoffen auf ein harmonisches Zusammenleben und schaffen soziale Räume.
Dies ist NEO. NEO ist neu, frisch, aber auch ungewöhnlich und vielseitig. NEO will die Entwicklung der Neustadt zum Schauplatz urbanen Lebens als Verstärker begleiten. NEO will Kultur unterstützen, will bewegen und Geschichten erzählen, möchte Menschen und Projekte vorstellen mit Ideen für den Stadtteil. NEO mag Musik, Theater, Literatur und Kunst. Unser Magazin verbindet Zeitgeist mit Zeitlosigkeit, Punk mit Straßenrap, Pop mit Literatur und ein stilvolles Design mit hochwertigen Texten, Fotos und Illustrationen. Alles links der Weser. In dieser ersten Ausgabe beschäftigen wir uns mit dem Machen, Sehen, Hören, Gucken, Genießen, Treffen, Kennenlernen und Träumen der Neustadtmenschen.“
Die Dete, die Dete, die Dete!
Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei! Das wusste bereits der singende Da-Da-Da-Philosoph Stephan Remmler. Vergänglichkeit klebt wie ein hartnäckiger Kaugummi an all unserem Streben.
Dass wir ach so einzigartigen Krönchen der Schöpfung eines Tages alle genauso wie jede x-beliebige Sau dem Schlachtermesser der Zeit zum Opfer fallen, dies ist ein Fakt, dem sich nicht zu widersetzen lohnt. Dass jedoch bereits zu Lebzeiten etwas, das wir lieb gewonnen haben, im Orkus des Weltenlaufs hinfortgespült werden soll – das sehen wir nicht ein! Da stellen wir uns in aller Öffentlichkeit auf die fein besohlten Füßchen, reißen die Ärmlein in die Höhe, wedeln mit selbstgebastelten Wimpeln und pusten in Trillerpfeifen, um gegen diese Ungerechtigkeit zu protestieren.
Nicht selten allerdings ist alle Pfeifentrillerei und Wimpelwedelei vergebens. Das führte uns vor einem Jahr exemplarisch eine Lokaltragödie vor Augen: der Tod der Dete!
Für all jene, die bisher nicht wissen, wer genau diese Dete war, hier eine knappe Rückblende: Die Dete war einst ein Möbelhaus namens Deters, das vor Jahren aufgegeben, leer geräumt und gekauft wurde von einem Investor, der es verwaist dastehen ließ – bis sich sechs Freunde des Gebäudes annahmen, zwei Buchstaben aussortierten und dafür allerhand Polstermöbel, technisches Equipment, Kunst und Kultur und viel gute Laune hineinschleppten.
Das Kultureinrichtungshaus Dete war geboren und eroberte im Nu die Herzen vieler Neustädter. So ein offener Raum für Ausstellungen, Konzerte, Lesungen und Theater, der hatte dem Stadtteil bisher gefehlt. Doch nicht allein die Neustädter, sondern allerlei Leute aus verschiedenen Ecken der Hansestadt strömten Woche für Woche in die Dete.
Und so tranken Schwachhausener Brüderschaft mit Pusdorfern, spielten Grolländer Tischfußball mit Viertellinis und drehten Oberneuländer neben Gröpelingern auf dem Bürgersteig Zigaretten – in der Dete wuchs bei Kaffee und Kuchen, bei Wein und Bier, bei Mate und Nappos auf Sofas, Sesseln, Paletten und mit ollem Teppich überzogenen Treppenstufen zusammen, was zusammengehört.
Doch aller Popularität und Medienberichterstattung, allen Nachbarschaftsinitiativen wie Sympathiebekundungen von Stadtteilpolitikern und allen Unterschriftenaktionen sowie Demonstrationen zum Trotz, hieß es schließlich: bye, bye, lovely Dete.
Und so gedenken wir in grimmiger Trauer eines Ortes, der sich in nur zehn Monaten für so viele in ein zweites Zuhause verwandelt hatte, und sagen schlicht, einfach und pointenfrei:
Danke Dete, wir werden Dich nicht vergessen!
DIE LEGENDE VON DER NEUSTADT
Der Bremer Neustädter hat es nicht leicht: Nacht- und Kulturleben der Hansestadt spielen sich nicht in seinem Stadtteil, sondern auf dem anderen Weserufer im Steintorviertel ab, wo Studenten, selbst ernannte Lebenskünstler sowie stadtbekannte Szenegrößen in ihrer zeitgemäß aparten Kluft über den Ostertorsteinweg flanieren. Besuch von diesen bewunderungswürdigen Wesen sollte der Neustädter nicht erwarten, denn er lebt auf der falschen Seite, die zu betreten einem Viertelbewohner nicht zugemutet werden darf.
„Neustadt? … Neustadt … das ist doch … ist das nicht …?“, fragt der Viertellini ein wenig verwirrt, wenn er auf jenen Stadtteil angesprochen wird, zuckt schließlich mit den Schultern und verschwindet in einer Kneipe am Eck, um der entstandenen Irritation mit ein paar Becks beizukommen.
Neustadt, das ist … ja, ist Bremen, ist jedoch jenseits des Flusses, den der Viertelbewohner lediglich aus der Schräglage seiner Kuschelwiese, dem Osterdeich, kennt. Der Fluss, das ist die Weser, das weiß er wohl – aber dahinter, hinter der Weser?
„Da ist das Café Sand. Das sieht man doch!“
Ja, aber was ist hinter diesem?
„Hinter dem Café Sand soll noch etwas sein?“ fragt er mit aufgerissenen Augen, starrt in den Abendhimmel über dem Stadtwerder und erschaudert beim Gedanken daran, sich in jene Ferne hinauszuwagen und hinabzustürzen in die niedersächsische Provinz, die er dort bisher vermutet hat. Hinter dem Café Sand lauert das Ende seines schnuckligen Biotops, das er nicht freiwillig verlässt, denn wer weiß, ob es eine Rückkehr geben wird, wenn er in die rauen Gefilde der Peripherie vordringt.